Leseprobe
72 Moderne und historische Triebkräfte Das intellektuelle Vermächtnis Moholys Anfang 1950, kurz vor dem Erscheinen der Biografie, veröffentlichte Sibyl Moholy-Nagy in der kurzlebigen Zeitschrift Copy. Today’s Better Fiction 5 einen Ar- tikel mit dem Titel »The making of a constructivist« (Die Entstehung eines Konstruktivisten), in dem sie die Leitgedanken rekonstruiert, die dem Werk ihres verstorbenen Ehemannes zugrunde lagen. In chronologischer Reihenfolge erörtert sie verschie- dene Inspirationsquellen, die auf eine oder andere Weise mit seinem zentralen Thema, dem Licht, zu tun hatten. Expressionismus und Kubismus hatte Moholy in jungen Jahren in seiner Berliner Zeit erforscht. Sie halfen ihm, die gegenständliche Male- rei hinter sich zu lassen, gleichsam Tabula rasa zu machen und die Strukturen, die Selbstgenügsamkeit der Form im Raum zu betrachten. In der nächsten Periode stand er unter dem Einfluss von Kasimir Malewitschs Suprematismus und Mondrians Neo- plastizismus, deren mit Spannung und Harmonie angereicherte Reinheit und visuelle Disziplin ihm als Vorbild für die Wiedergabe einer universellen, objektivierten Gefühlserfahrung dienten. Auf dieser Grundlage entwickelte er seine Faszination für Transparenz und die Durchdringung des Raumes, erforschte die Funktion dynamischer Farbkon struktionen und begann daraufhin, zwischen einem statischen und dynamischen, einem von harmo nischer Opposition geprägten Gleichgewicht zu unterscheiden. Er experimentierte mit transparen- ten Materialien wie Zelluloid und Plexiglas, die er bemalte und verformte und mit denen er drama tische Schattenzustände auf weißem Hintergrund erzeugte. Jenseits der dynamischen stellte er sich eine vierte, eine kinetische Dimension vor, die auf Seiten des Zuschauers Bewegung und aktive Intervention erforderte, und arbeitete an einem Künstler und Betrachter verbindenden ästhetischen Kollektivismus als philosophischer Grundlage sei- nes »Totalexperiments« (Abb. 36). Moholys Vision verdeutlichte sie anhand eines Zitates aus einem Text von 1923: »Der Protest gegen den Kastengeist der imperialistischen Welt und die trügerische Sentimentalität der alten Ikonografie wurden sublimiert in einem fanatischen Willen, konstruktiv zu bauen und mit Freude zu schaffen. Der Konstruktivismus, der unsere neue Dimension ist, hat keinen anderen Zweck als die Teilnahme am Leben. Er ist im Wesen eins mit dem Geist der Evolution, der die Wissenschaft, die Zivilisation und die Systeme geschaffen hat, die das gesellschaftliche Leben bestimmen. Wie sie ist die konstruktive Kunst ein Prozeß, der für immer nach allen Richtungen offen ist. Sie ist Gestalterin der menschlichen Fähigkeit der Wahr- nehmung der emotionalen Reaktion und des logischen Denkens.« 6 Schon in dem Copy -Artikel erkennt man Sibyl Moholy-Nagys Gabe, die Ideen ihres verstorbenen Mannes, aber auch die seiner Zeitgenossen, Abb. 36 László Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer elektrischen Bühne (Licht-Raum-Modulator), 1930, Harvard Art Museum, Busch-Reisinger Museum /Geschenk von Sibyl Moholy-Nagy.
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