Leseprobe

103 Sibyl Moholy-Nagys Liebeserklärung an die Groß- stadt stammt aus dem Jahr 1954 und findet sich in einem Leserbrief an die Zeitschrift Architectural Record, der unter der Überschrift »Where the great city stands« (Wo die große Stadt steht) veröffent- licht wurde und mit dem sie auf die damals ver­ breitete Vorstellung reagierte, die Großstadt habe versagt und Stadtplanung und Wohnungsbau wür- den sich in Zukunft in Vororten und Grüngürtel­ städten realisieren. 1 Die Probleme von Großstädten, befand sie, seien nicht dadurch zu lösen, dass ihre Bewohner sie verließen: »Es gibt geborene Stadt- und geborene Landbewohner und wird sie immer geben, und keine Hygiene im weitesten Sinne des Wortes – seelische und körperliche Hygiene – wird aus einem Landbewohner einen Stadtbewoh- ner machen. Es gibt Millionen von Amerikanern, die trotz regionaler Raumplanung und -ordnung und House Beautiful weder Kollektensammler im Sonn- tagsgottesdienst noch Vorsitzende der ›Elks‹ sein möchten; die sich bei Bridge-Nachmittagen und Gruppenfernsehen langweilen und auch kein Gebäck für Pfadfinderinnen backen wollen. Hinter der kalten Unpersönlichkeit einer nummerierten Woh- nungstür verstecken sie keine düsteren Neigungen, sondern das geschätzte Recht auf Anonymität.« 2 Sie erinnert in diesem Zusammenhang an das mittelalterliche deutsche Sprichwort »Stadtluft macht frei« und beschreibt die Großstadt als den Ort, an dem Individualisten aller Schichten nach ihren eigenen Vorstellungen leben könnten, der mehr biete als bloße Müllentsorgung und Immobilienwerte und an dem Autoritäten und soziale Normen in Frage gestellt werden dürften. Bereits in ihren Arbeiten aus den 1950er Jahren, die zum Teil in Native Genius in Anonymous Archi- tecture eingegangen sind, zeigte sich das Inter- esse für die kollektive und urbane Dimension von Abb. 58 Brasilia im Bau, 1959. Die monumentale Achse.

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