Leseprobe

125 Sibyl Moholy-Nagy war stolz auf ihren Status als »DCT (Devoted Classroom Teacher) [Engagierte Dozentin], die niedrigste Spezies auf der akademi­ schen Leiter«. In einem Interview mit einer Studen- tenzeitung sprach sie von ihrer selbst gewählten »Lebensaufgabe«, mit akademischer Stickigkeit aufzuräumen und die eigenen Vorlesungen wenigs- tens so unterhaltsam wie eine Varietéshow zu gestalten. Sie beklagte, dass »der Hochschulunter- richt in der Regel unter mangelndem Humor und mangelnder Aufmerksamkeit gegenüber den sich ständig verschiebenden Deutungen historischer Werte, aber auch unter aufgeblähter Selbstgefällig- keit« leide. Sie selbst bemühe sich darum, den Studierenden aktuelle, visuell ansprechende und anregende Lehrveranstaltungen zu bieten. 1 Dass diese Mission weitgehend von Erfolg gekrönt war, lässt sich an der großen Bewunderung ermessen, mit der sich ehemalige Schüler über sie äußerten – auch Jahre nachdem sie die Lehranstalt verlas­ sen hatten. Einige derer, die sich gut an sie erinnern, wur- den später zu prominenten Akteuren in ganz unter- schiedlichen Bereichen; es war also nicht eine bestimmte Art von Studierenden, die sich von ihr angesprochen fühlte. Jeffrey Cook, der Befürworter einer passiven Solararchitektur, erwähnte sie in sämtlichen seiner Lebensläufe – selbst wenn diese nur zehn Zeilen umfassten. 2 Der Architekt Peter Zumthor erzählt, dass sie ihn während des Studien- jahres, das er am Pratt Institute verbrachte, maß- geblich beeinflusst habe. 3 Auch der Innenarchitekt David Easton schreibt ihr eine bedeutende Rolle in seiner Biografie zu. 4 Der Regisseur und Drama­ tiker Robert Wilson würdigt die theaterähnliche räumliche Organisation ihres Unterrichts, bei dem die Studierenden im Dunkeln saßen und die ein- zige Lichtquelle die Dias waren, die auf drei Bild- schirme gleichzeitig projiziert wurden. 5 Mit Vorliebe erinnert er sich an eine der Übungen, die Moholy- Nagy ihnen auftrug und die darin bestand, in drei Minuten eine Stadt zu entwerfen: »Ich erinnere mich immer daran, wie ich diese kurze Gelegenheit genutzt habe: Ich zeichnete einen Apfel mit einem Kristallwürfel als Kern. Einige Tage später fragte mich Professor Moholy-Nagy, was ich während­ dessen gedacht hätte. Ich antwortete ihr, der Kristall­ würfel könne das Universum widerspiegeln und auch Städte bräuchten derartige Zentren. Ihr Unter- richt und diese eine Stunde haben mich mein ganzes Leben lang und in all meinen experimentel­ len Theaterarbeiten begleitet. Ehe es komplex werden kann, muss Theater zunächst einfach sein. Diese kleine dreiminütige Übung hat mich ge- zwungen, in größeren Dimensionen zu denken.« 6 Architekturgeschichte als Lehrfach Das Pratt Institute war eine private Hochschule, die im späten 19. Jahrhundert zur Arbeiterbildung gegründet wurde. Als Moholy-Nagy hier zu unter- richten begann, umfasste es eine Kunstschule (zu der auch die Architekturabteilung gehörte), eine Schule für Hauswirtschaft, eine Ingenieur- und eine Bibliotheksschule. Die Architekturabteilung wurde 1954 zu einer eigenen, unabhängigen Schule, die bald mehr und mehr Zulauf erhielt. Aufgrund ihrer engen Kontakte zu vielen bekannten Archi­ tekten war Moholy-Nagy maßgeblich daran beteiligt, neue Kollegen zu gewinnen, die herausragende Designlehrer werden sollten: »Sibyl ist der Grund- pfeiler, auf dem das Pratt Institute errichtet wurde. Niemand wird das bestreiten. Ohne Sibyl hätten weder William Breger noch Stanley Salzman noch auch Harold Edelman […] am Pratt Institute unterrichtet.« 7 In den späten 1950er Jahren war das Pratt Institute neben der Columbia University die einzige Lehranstalt in New York, die eine vom Berufsver- band der Architekten akkreditierte Ausbildung anbot. Der Lehrplan war stark designorientiert; mehrere der wichtigsten Entwurfslehrstuhlinhaber waren Absolventen der Graduate School of Design, die Walter Gropius an der Harvard University gegründet hatte. 8 Die Ausbildung orientierte sich daher an den wichtigsten Prinzipien der modernen Architektur: Funktionalismus, Rationalität im Bauwesen, Nüch- ternheit in der Form, Detailgenauigkeit.

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