Leseprobe
126 Lehren als Berufung Sibyl Moholy-Nagy galt in Pratt als »Star- Performerin«. 9 Eine ihrer ehemaligen Studentinnen beschrieb sie als »eine Ein-Mann-Band, eine sehr starke Frau«. 10 Andere erzählten, dass sie Ehrfurcht vor ihr hatten und sich fast eingeschüchtert fühlten von ihr. Wenigstens zu einem Teil dürfte sie ihre Wirkung wohl der Überzeugung ihrer Studie renden und Kollegen verdankt haben, dass sie an renommierten deutschen Universitäten studiert hatte. Das Institut jedenfalls annoncierte sein neues Fakultätsmitglied fälschlicherweise als Ab- solventin der Universitäten von Leipzig, Gießen und Frankfurt am Main. 11 Wie bereits erwähnt, hatte sich Sibyl Moholy-Nagy angewöhnt, ihren Lebens- lauf mit Informationen auszuschmücken, die nicht der Wahrheit entsprachen und ihr dabei helfen sollten, die von ihr angestrebte Stelle zu erhalten. 12 Immerhin hatte sie viel Zeit in diesen drei deut- schen Städten verbracht und vermutlich genügend öffentliche Vorlesungen besucht, um ihrer Behaup- tung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zudem konnte sie, als sie ihre Anstellung am Pratt Institute antrat, eine Liste von Veröffentlichungen vorlegen, die, wenn auch nicht übermäßig lang, so doch be- eindruckend genug war, um die Schulleitung davon abzuhalten, ihre Referenzen anzuzweifeln. 13 Ihre Lehrveranstaltungen überzeugten jedenfalls alle davon, dass sie über ein sehr breites und differen- ziertes Wissen verfügte, sodass ihr intellektuelles Ansehen, wenigstens in diesem Zusammen- hang, nie in Frage gestellt wurde. In den Jahren, in denen sie am Pratt Institute unterrichtete, mussten Architekturstudenten im zweiten, dritten und vierten Jahr Kurse in Kunst- und Architekturgeschichte und im dritten Jahr zusätzlich einen Kurs in Architekturtheorie belegen. Sibyl Moholy-Nagy war für diesen Teil des Lehrplans verantwortlich und unterrichtete im Graduierten programm einen Kurs zur »Geschichte menschlicher Siedlungsformen«. Die Grundstudiengänge in Architekturgeschichte bestanden in erster Linie aus Übersichtsveranstaltungen und reichten von der Architektur des alten Mesopotamien und Ägypten und der griechischen und römischen Antike über Romanik und Gotik bis zur Renaissance und dem Barock. Im letzten Teil wurden Konstruktions- systeme und die Entwicklungen in der Stadtplanung angesprochen; in Architekturtheorie wurden aktuelle Fragen behandelt, wobei die besondere Aufmerksamkeit hier den Arbeiten von F. L. Wright, Le Corbusier und Mies van der Rohe und anderen modernen Architekten galt. 14 Auch wenn sie bereits zu Beginn ihrer Lehrtätig- keit, als der Lehrplan der Architektenausbildung noch eher schmal ausfiel, in hohem Ansehen stand, galten ihre Kurse, deren Schwerpunkt auf dem Design lag, bei den Studierenden nicht als unverzichtbar. 15 In den 1960er Jahren erfreute sich das Institut immer stärkerer Beliebtheit, und sie genoss die Wertschätzung, die ihr aufgrund ihrer zahlreichen Veröffentlichungen von Seiten ihrer Kollegen zuteilwurde. Vor allem der Dekan Olindo Grossi (1909 – 2002) bewunderte sie – wohl auch weil sich ihr Ruf als Dozentin in den Vereinigten Staaten und im Ausland positiv auf die von ihm geleitete Institution auswirkte. Jedenfalls gewährte er ihr bei der Gestaltung der Architekturgeschichts- abteilung und der Einstellung von Assistenten großzügigen Freiraum. 16 Auf dieser sicheren Basis begann sie, mit dem Format ihrer Vorlesungen und Seminare zu experi- mentieren, und baute eine umfangreiche Dia-Sammlung auf, die sie weidlich nutzte: »Um sicher- zugehen, dass wir im Dunkeln nicht einschliefen oder das Interesse verlören, ließ sie uns Skizzen nach den von ihr gezeigten Dias anfertigen. Wir hatten kaum Zeit dafür, sie klickte immer sehr schnell weiter. Aber auf diese Weise haben wir gelernt, wie man schnell zeichnet. Wir haben einige schnelle Strichzeichnungen gemacht, die wir nachher schattierten und schraffierten. Die Skizzen waren nichts Besonderes, wir hatten ja kaum Zeit dafür – aber es war eine tolle Erfahrung und ein praktisches Hilfsmittel, um als junger Archi- tekt all diese Gebäude in die Finger und in den Kopf zu bekommen.« 17
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