Leseprobe
127 Andere Studierende erzählen, dass sie oft ver- gleichend vorging und Dias nebeneinander zeigte, um einen bestimmten Punkt hervorzuheben. 18 Auch hielt sie ihre Zuhörer dazu an, ebenfalls grafi- sche und vergleichende Darstellungen anzufertigen und Zeichnungen oder Modelle mit ausführlichen Bildunterschriften zu präsentieren, um eine be stimmte Frage zu beantworten. Eine typische Auf- gabenstellung lautete etwa so: »Berücksichtigen Sie die folgenden vier architektonischen Haupt kriterien: 1. Außenform […]; 2. Struktur […]; 3. Grund- riss und Raum […]; 4. Ästhetik […] Untersuchen Sie jeden dieser vier Aspekte in den Arbeiten von a) Frank Lloyd Wright und b) Le Corbusier. […] Stellen Sie die für Wright und Le Corbusier charak- teristischen Lösungen nebeneinander und formu lieren Sie knappe, eindeutige Bildunterschriften, die in wenigen Sätzen die unterschiedliche Heran- gehensweise beider Architekten an das gleiche Grundproblem erläutern.« 19 Einer ihrer Studenten beschreibt sie als extrem fordernde Dozentin: »Sie war eine strenge Lehr- meisterin. Aber wir hatten alle Respekt vor ihr. Dabei [sc. in ihrer fordernden Haltung] war sie nicht ge- mein oder kleinlich. Es war nur enorm schwer, es ihr recht zu machen. Also haben wir uns alle beson- dere Mühe gegeben, sie zufriedenzustellen oder es besser zu machen […] Ja, sie war temperament- voll. Man musste hart arbeiten, wenn man mit ihr klarkommen wollte.« 20 Die Begeisterung, mit der sie über Architektur- geschichte sprach, wirkte auf einige Studierende geradezu ansteckend: »Sie legte in mir den Grund- stein für meine Liebe zur Architekturgeschichte und für meine spätere Arbeit in der Denkmalpflege. Ihr Unterricht war unglaublich informativ und unter- haltsam. Als ich dann selber anfing, Architektur geschichte zu unterrichten, verwendete ich dafür ihre Überblicksdarstellung.« 21 (Abb. 70) Als Moholy-Nagy das Pratt Institute 1969 verließ, unterrichteten ihre Assistenten die Überblickskurse des zweiten Studienjahres, während sie selbst für die Überblickskurse des dritten und vierten Jahres zuständig blieb. In einem Brief an ihre Tochter schrieb sie damals, sie fühle sich jetzt derart sicher auf ihrem Gebiet, dass sie »viele Gebäude, Archi- tekten und ganze Bewegungen, die als unantastbar galten und die sie inzwischen für irrelevant hielt, abschießen« könne. 22 Der Lehrplan des dritten Studienjahres war um Kurse wie »Nicht-westliche Kulturen«, »Islamische Architektur« und »Frühe Siedlerarchitektur in Nordamerika« erweitert worden; das vierte Studienjahr galt der jüngsten Architektur- geschichte von der Aufklärung bis 1950. Im drit- ten Studienjahr wurde zudem ein Seminar über »zeitgenössische Probleme von Raum und Gefüge« mit abschließenden Untersuchungen zur wechsel- seitigen Beeinflussung von Kunst (Skulpturen, Wand- und Farb-Licht-Textur-Verwendungsmöglichkeiten) auf das Raumerlebnis« angeboten. Der Kurs »Geschichte menschlicher Siedlungsformen« war Bestandteil des Graduiertenprogramms. 23 Abb. 70 Sibyl Moholy-Nagy bei einer ihrer Indien-Reisen.
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