Leseprobe

145 Es fällt nicht leicht, Sibyl Moholy-Nagy in die intellektuellen Strömungen und Kontexte ihrer Zeit einzuordnen. Denn auch wenn sie ihre Meinun- gen und Thesen stets in aller Deutlichkeit vortrug, so ließ sie sich doch nur selten auf Bündnisse mit anderen Intellektuellen oder mit Architekten ein. Die Menschen, die sie gekannt haben, erinnern sich auf höchst unterschiedliche Weise an sie. Für einige ist sie vor allem aufgrund ihrer Betrach- tungen von Architektur zum örtlichen Subkontext, zu vernakulärer Architektur und zum Einfluss anonymer Erbauer unvergesslich. Jeffrey Cook etwa beschreibt sie als lebenslange Inspirationsquelle für seine bioklimatischen und ökologischen Design-Projekte. 1 Ron Shiffman verehrt sie als die Do- zentin, die ihm die innige Verbindung zwischen Architektur und Kultur nahegebracht hat: »Ihr Buch Native Genius in Anonymous Architecture erfordert vom Architekten nachdrücklich ein Verständnis für die Kultur, in der er arbeitet – ganz so, als wäre er selbst aus dieser Kultur hervorgegangen und vermittle den Kulturen der Zukunft jene der Vergan- genheit. Sei es die Umgebung oder seien es die Haltungen, die sich der anonymen Architektur, die wir heute kennen, einprägten – all das hat mich immer stark angesprochen. Und gewissermaßen haben wir uns bemüht, genau dies umzusetzen, als wir die Studierenden aufforderten, in den Stadt- vierteln zu arbeiten.« 2 Für Lee Cott und andere hingegen liegt Sibyl Moholy-Nagys Bedeutung in den engen Beziehun- gen, die sie zu den Hauptvertretern der Architektur der Moderne unterhielt: »So kam Sibyl ans Pratt  Institute: Man hatte uns immer gesagt, dass ›Gropius nach Harvard kam, Mies nach Chicago und Sibyl zu Pratt‹. Jedenfalls gefiel es ihr, dass wir sie auf diese Weise wahrnahmen. Und indem sie  sich auf den International Style verlegte, veranlasste sie das Pratt Institute dazu, es genauso zu machen.« 3 Wieder andere schätzten Umfang und Intensität ihrer Lehrveranstaltungen zur Architekturgeschichte: »Der Stoff, den sie behandelte, war ziemlich weitgespannt und umfasste die gesamte westliche Architekturgeschichte bis zur Spätmoderne. Natürlich habe ich das Material erweitert (die japanische, indische und südostasiatische Architektur kam ja in ihren Veranstaltungen nicht vor), aber für die sechziger Jahre war es schon eine ganze Menge.« 4 Zahlreich sind die Anekdoten über ihre Leiden- schaft für lebhafte Diskussion. Die Nachrufe derer, die sie am besten gekannt hatten, heben ausnahmslos hervor, wie sehr sie Kontroversen schätzte. James T. Burns, der Chefredakteur von Progressive Architecture, nannte sie »mutig, eigensinnig, energisch, streitsüchtig, humorvoll, unverblümt, einfallsreich, lebhaft und engagiert«. Er erinnerte seine Leser aber auch daran, dass sie Meinungen vertrat, die ein wenig widersprüchlich waren. So habe sich etwa ihr Interesse an anony­ mer Architektur und deren Einfluss auf die Ge­ staltung der unmittelbaren Umwelt nicht wirklich mit ihrem Engagement für Architektur als Kunst vertragen. 5 Adolf Placzek, ein langjähriger Freund und Kollege von der Columbia University, be- zeichnete sie als »eine der scharfsinnigsten Kritike- rinnen, die die Society of Architectural Historians jemals gekannt hat« und »einen bemerkenswerten Menschen im Brennpunkt permanenter Kontro­ versen«. 6 Ähnlich auch Peter Collins, ihr Freund und ehemaliger Gegner: »Sie schrieb mehrere ein- flussreiche Bücher; aber ihr literarisches Genie trat nirgends so triumphierend zutage wie in ihren vernichtenden und brilliant formulierten Streit­ schriften.« 7 Der Architekt Paul Rudolph hebt ihren widersprüchlichen Charakter hervor: »Sie konnte auf gebieterische Weise ungeduldig sein, aber auch rührend verletzlich; leidenschaftlich eigensinnig, und doch erbarmungslos objektiv; eine gründliche Forscherin, die mit ihren ungewöhnlichen Empfin- dungen aber nicht hinterm Berg hielt – all das machte ihre Kritiker wehrlos.« 8 Ihre Zeitgenossen empfanden sie als leiden- schaftlich, aber eben auch widersprüchlich, und sie fanden es schwierig, sie auf ein System konkreter und klar umrissener Ideen festzulegen. Als Chef­ redakteurin von Progressive Architecture schrieb Suzanne Stephens im Jahr 1977: »[…] ihr Name erschien fast jeden Monat in einer der Architektur-

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