Leseprobe

146 Eine umstrittene Figur zeitschriften, manchmal auch öfter. Stets pro- vozierten ihre Artikel heftige Gegendarstellungen, leidenschaftliche Diskussionen und beachtliche Kontroversen. In der Regel ging es hierbei um reine, freilich sehr brisante Architekturthemen. Und in vielen Fällen lag sie mit ihren Urteilen völlig richtig – aber sie stieß viele vor den Kopf durch die Art und Weise, in der sie diese Urteile äußerte, und die Wahl des Zeitpunkts, zu dem sie dies tat. 9 Bündnisse und Kontroversen Am Anfang von Sibyl Moholy-Nagys beruflicher Laufbahn nach dem Tod ihres Mannes stand ein heftiger Streit mit Serge Chermayeff, Moholys Nachfolger als Direktor des Institute of Design in Chicago. Die genauen Gründe für diesen Konflikt lassen sich nicht mehr rekonstruieren; man kann jedoch davon ausgehen, dass Chermayeff in Sibyls Augen Führungsqualitäten vermissen ließ und sie ihm vorwarf, Moholys Auffassung davon, was die Schule sein sollte, untreu zu werden (Abb. 75). 10 Ihre Loyalität galt damals Moholy und seinem Erbe, wofür andere Dozenten des Instituts Verständnis hatten – am deutlichsten Martin Metal, ihr Geliebter und Verlobter, der gemeinsam mit ihr das Institut verließ und nach San Francisco übersiedelte. Ein weiteres Erbe ihrer Chicagoer Zeit war die langjährige Feindschaft zu Mies van der Rohe. Auch Mies hatte sich nach seiner Emigration aus Deutschland in Chicago niedergelassen. Davon überzeugt, dass er als letzter Direktor des Bau- haus’ Rechtsansprüche auf dessen Namen hatte, verübelte er Moholy die Verwendung des Namens »New Bauhaus« für die in Amerika gegründete Schule. Außerdem ärgerten ihn Moholys Leicht­ lebigkeit und die Umstandslosigkeit, mit der er sich die Autorschaft von Gemeinschaftsprojekten an­ eignete. 11 Angriffe von Sibyl Moholy-Nagy gegen Mies waren keine Seltenheit. Schon 1953 hatte sie seine Apartments am Lake Shore Drive – hart, aber nicht ungerecht – wegen deren »licht- und luftlosen Badezimmern und Küchen« kritisiert. 12 1958 folgte der Artikel »Steel, Stocks and Private Man«, in dem sie die Unverzichtbarkeit der Unterscheidung zwischen öffentlichen und pri- vaten Gebäuden postulierte und rügte, dass Mies’ Rasterarchitektur hierauf keine Rücksicht nehme. 13 Noch schärfer war dann die Kritik, die sie 1961 in ihrer Studie über das Lafayette-Projekt in Detroit äußerte und die, obschon nicht ganz unberechtigt, doch derart negativ ausfiel, dass sich keine amerikanische Zeitschrift bereitfand, sie zu ver­ öffentlichen. 14 Den Höhepunkt erreichte ihre Fehde gegen Mies in dem Artikel »The Diaspora«, in dem sie 1965 ihre dichteste und intensivste Diagnose der Irrungen und Wirrungen moderner Architektur in Amerika vorlegte und Mies’ Entwurf für das Berliner Reichsbank-Gebäude von 1935 als »faschis- tisch« bezeichnete (der Artikel provozierte den amerikanischen Architekten und Architekturhistoriker Howard Dearstyne, der in Berlin bei Mies studiert hatte, zu einer langen sexistischen Reaktion). 15 Allerdings konzedierte sie im gleichen Artikel, dass es Mies von allen Diaspora-Architekten am besten gelungen sei, sich in den Vereinigten Staaten neu zu erfinden und seine Architektur in Meisterwerken wie dem Seagram Building in New York neu zu beleben. Zwar widmete sie seiner Arbeit nie eine umfangreichere Untersuchung, die man als positiv hätte empfinden können, vor Mies’ Talent und Tatendrang aber hatte sie enormen Respekt. Auch ging ihre Feindschaft nicht so weit, dass sie jeden Kontakt vermieden hätte. Ihrer Stu- dentin Laurie Maurer etwa schlug sie vor, ein Praktikum in Mies’ Büro in Chicago zu absolvieren, und war sogar bereit, ein Empfehlungsschreiben für sie zu verfassen. Es kam dann anders, weil Maurer in New York bleiben wollte und ihr Prakti- kum schließlich bei Philip Johnson machte (der sie zu ihrem großen Erstaunen ohne jede Bedenken anstellte). 16 Die Anekdote zeigt, dass Moholy-Nagy keine Mühe hatte, ihre ablehnende Haltung zu bezwingen, wenn sie überzeugt war, dies im Inter- esse eines Studenten oder Absolventen zu tun. Wie der in Johnsons Nachlass im Archiv des Museum of Modern Art erhaltene Briefwechsel zeigt, waren Johnson und Moholy-Nagy gut miteinander befreundet. 17 Sie fanden einander

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