Leseprobe
9 Die Geschichte der modernen Architektur kennt eine ganze Reihe von Figuren, die ihr Leben lang Randerscheinungen blieben. Nur wenige wer- den von der Geschichtsschreibung hervorgehoben; sie konzentriert sich stets auf die Hauptdarsteller und wichtigsten Handlungsstränge. Autoren wie Kenneth Frampton, Alan Colquhoun oder William Curtis etwa erzählen Architekturgeschichte in einer Folge von Kapiteln, die sich mit Leben und Werk von Star-Architekten wie Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius oder Alvar Aalto und den Bewegungen befassen, denen diese an- gehörten. 1 Nebenrollen werden mit Schülern, Kritikern und Nachfolgern besetzt; die Dramatik der Handlung verdankt sich den Konflikten der Prota- gonisten mit stärker der Tradition verhafteten Archi- tekten, mit politischen – insbesondere den national- sozialistischen – Machthabern, mit einer kultur- konservativen Öffentlichkeit oder konkurrierenden Bewegungen. Für Frauen ist in solchen Überblicks- darstellungen bekanntermaßen wenig Platz, 2 und auch in der Architektur des 20. Jahrhunderts sieht es so aus, als hätten Frauen keine nennens- werte Rolle gespielt. Zwar haben verschiedene feministische Historikerinnen in ihren Arbeiten die- ses Bild inzwischen korrigiert, bestehende Lücken geschlossen und die Leistungen von Architektinnen wie Eileen Gray, Grete Schütte-Lihotzky, Charlotte Perriand, Lilly Reich, Lina Bo Bardi und anderen hervorgehoben; 3 mehr als ein Anfang ist damit frei- lich nicht gemacht worden. Wo aber der Schwerpunkt auf die Hauptdarsteller und wichtigsten Handlungsstränge gelegt wird, bleibt eine Vielzahl spannender Diskussionen und Ereignisse aus dem weiten Netzwerk jener Akteure unterbelichtet, die die Architekturszene des 20. Jahrhunderts mitgeprägt haben. Mit dem Blick auf einige dieser Nebenfiguren oder im Hintergrund wirkenden Akteure lässt sich ein lebendigeres und detaillierteres Bild gewinnen, in dem auch jene Auseinandersetzungen und Verwerfungen deutlich werden, denen die Fachhistoriker bislang nur wenig Aufmerksamkeit haben zuteilwerden lassen. Frucht- bar machen lässt sich ein solcher Ansatz jedenfalls für Leben und Werk jener »Gruppe von Kritikerin- nen«, die, wie Reyner Banham 1971 bemerkte, »in den 1950er und 1960er Jahren das Architektur- Establishment der Vereinigten Staaten unaus‑ gesetzt auf Trab hielten«. 4 Einer dieser Kritikerinnen, Jane Jacobs (1916 – 2006), ist inzwischen durch eine Biografie und einen Film die gebührende Anerkennung zuteilgeworden – ihr Buch The Death and Life of Great American Cities hat seit seinem Erscheinen 1961 nicht an Einfluss verloren. 5 Bei Ada Louise Huxtable (1921– 2013) hingegen wartet man nach wie vor darauf, dass ihr eine umfang reiche Studie gewidmet wird. Sibyl Moholy-Nagy (1903 –1971), die dritte und, so Banham, »am meisten gefürchtete« dieser Kritikerinnen, steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Sibyl Moholy-Nagy wurde1903 als Sibylle Pietzsch und Tochter des Werkbund-Architekten Martin Pietzsch (1866 –1961) im damals noch nicht zu Dresden gehörenden Loschwitz geboren. Während ihrer Tätigkeit als Schauspielerin und Drehbuch- autorin lernte sie 1931 in Berlin den früheren Bauhaus- Lehrer László Moholy-Nagy (1895 –1946) kennen, dem sie als Ehefrau, Mutter seiner Kinder und Mitarbeiterin nach London und Chicago folgte. Ihre wissenschaftliche Karriere begann, als sie nach dem frühen Tod ihres Mannes dessen Biografie 6 und in der Folge eine Reihe von Büchern über Architektur veröffentlichte. 7 Sie publizierte darüber hinaus zahlreiche Artikel in Zeitschriften wie Archi- tectural Forum, Progressive Architecture, Bauwelt und Casabella und war eine wichtige Stimme in der Architekturszene der 1950er und 1960er Jahre. Sibyl Moholy-Nagy hat sich wie kaum eine zweite mit den Ideen und Phänomenen der Moderne auseinandergesetzt 8 – in einer Zeit, in der diese Gegenstand erbitterter Kämpfe zwischen gegneri- schen kulturellen und gesellschaftlichen Lagern waren. Als Mädchen und junge Frau erlebte sie während der Weimarer Republik den Konflikt zwi- schen ihrem Wunsch nach Modernität, Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und den engen Gren- zen, die ihr von Seiten des Elternhauses gesteckt waren, andererseits. Als Ehefrau und Mitarbeiterin
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