Leseprobe

10 Einleitung von László Moholy-Nagy gewährte sie ihrem Mann die praktische und emotionale Unterstützung, derer er für die Umsetzung seiner Vision moderner Kunst bedurfte; gleichzeitig wollte sie sich als Schriftstellerin profilieren. Als Migrantin gehörte sie zur Diaspora der deutschen Avantgarde in den Vereinigten Staaten. Als Witwe und Mutter von Kleinkindern bemühte sie sich inmitten einer ameri­ kanischen Nachkriegskultur, die ihren Ambitionen wenig Verständnis entgegenbrachte, um finanzielle und berufliche Unabhängigkeit. Als Kritikerin und Historikerin setzte sie sich mit der Kunst und Archi- tektur der Moderne auseinander. Und obwohl ihr die entsprechende Ausbildung fehlte – ihr Eltern- haus hatte ihr verboten zu studieren –, blieb ihr die Anerkennung als einflussreiche und geachtete Gelehrte in diesem Bereich nicht versagt. Sibyl Moholy-Nagy verkörperte verschiedene Gesichter der modernen Frau; sie führte, was man ein femi- nistisches Leben nennen könnte, kämpfte ent- schlossen um ihre Unabhängigkeit, trat allerdings nie als Feministin auf. Ihr Leben und Werk mögen daher stellvertretend einige der verwirrenden und paradoxen Aspekte der Beziehung zwischen Modernismus und Feminismus veranschaulichen. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, das Verhältnis etwas differenzierter zu betrachten. Wie kommt es, dass die Gleichstellung von Männern und Frauen heute zwar als Markenzeichen der west- lichen Moderne gilt, der Feminismus aber nur selten als ihr konstitutiver Bestandteil? Wenn Modernis- mus tatsächlich ein umfassender Begriff für all jene Tendenzen und Bewegungen ist, die die Moderne begleiteten und sich diese zu eigen machten, dann stünde eigentlich zu erwarten, dass der Femi- nismus, insofern er die zunehmende Gleichstellung von Mann und Frau beförderte, als ein fester Bestandteil dieses Modernismus gilt. Diese logische Gleichung stimmt jedoch nicht mit dem überein, was als historische Wirklichkeit wahrgenommen wird. Zwar kennt die Moderne eine ganze Reihe von Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, aber der Kanon der Literatur und bildenden Kunst ist von Männern geprägt – ein Paradox, das sowohl Literaturwissenschaft als auch Kunstgeschichte zum Thema gemacht haben. 9 Noch geringer scheint die Wirkung des Feminismus in der Archi- tektur gewesen zu sein. Den vielen Studentinnen, die am Bauhaus eingeschrieben waren, blieb die Teilnahme am Architekturkurs verwehrt. 10 Die Befreiung der Frau war zwar Gegenstand der Auseinandersetzungen über Wohnungen für das Existenzminimum, die Beteiligung und Mitwirkung von Frauen hieran beschränkte sich freilich auf ein Minimum. 11 Die Architekturszene der Moderne war überwiegend männlich dominiert und patri‑ archalisch geprägt – mit dem Feminismus kam sie nur selten in Berührung. 12 Die Ursachen dafür, dass Frauen kaum Anteil an Praxis und Diskurs der Architektur hatten, waren komplex. 13 Ein rätsel- haftes Paradox durchdringt die Geschichte des 20. Jahrhunderts: Die Emanzipation der Frauen hatte im Emanzipationsprojekt »Modernismus« keine feste Verankerung. Das vorliegende Buch zeigt, welche Wirkung das für Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau hatte. Ein weiteres Ziel dieses Buches besteht darin, die komplexe Geschichte der modernen Architektur um verschiedene Aspekte zu bereichern. In Sibyl Moholy-Nagys Leben und Werk werden die Wand- lungen deutlich, die die Architekturmoderne in ihrer Entwicklung von Europa nach Amerika, zwi- schen sozialem Wohnungsbau und Unternehmens- kultur durchlief. Sibyl Moholy-Nagy war eine scharf­ sinnige Beobachterin dieses Wandels. Eng vertraut mit der Lehrtätigkeit ihres Ehemanns am Chicago Institute of Design, hielt sie seinen Vorstellungen von bildender Kunst und Design auch nach seinem Tod die Treue. Gleichwohl stand sie dem Bauhaus-Erbe auf dem Gebiet der Architektur zunehmend kritisch gegenüber. So gehörte sie zu den ersten, die Zweifel an dem Weg artikulierten, den die Architektur der Moderne nahm. Sie entzauberte die Mythen von Meistern wie van der Rohe, Le Corbusier und Gropius und warf ihnen Größenwahn und Mangel an Respekt vor den Nutzern und Bewohnern der von ihnen entworfenen Gebäude vor. Sie wies in ihren Forschungen zu anonymer Architektur und

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