Leseprobe

11 historischen Stadtstrukturen auf Raum- und Material- qualitäten hin, die von zeitgenössischen Entwick- lungen bedroht waren. In ihren kritischen Betrach- tungen zu Bauten von Paul Rudolph, Philip Johnson, Eero Saarinen und anderen brachte sie häufig historische Bezüge ins Spiel, um den Wert dieser Bauten für die Architektur- und Stadtkultur ihrer scharfsichtigen Beurteilung zu unterziehen. Ihre Ansichten äußerte sie oft polemisch und unverblümt, mitunter sogar in beleidigender Absicht, allerdings selten, ohne Anlass dazu zu haben. Ihr Lebens- werk ist gleichzeitig der einmalige Versuch, Kritik zu üben an der heroischen, männlich dominierten Version des Modernismus und diese in Frage zu stellen, wobei sie nicht nur eine weibliche Stimme, sondern auch eine weibliche Sichtweise einbrachte. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich mich in erster Linie auf Archivquellen und mündlich Tradiertes sowie auf die Analyse von bereits ver­ öffentlichtem Material gestützt. Die meisten Texte von Sibyl Moholy-Nagy sind auf Mikrofilm in den Archives of American Art in Washington zugänglich. Diese Sammlung enthält persönliche Unterlagen und Tagebücher, Briefe, Notizen für Vorträge, veröffentlichte Materialien u. ä. Einige Dokumente befinden sich im Besitz ihrer Tochter Hattula Moholy-Nagy (geb.1933) in Ann Arbor, Michigan, und ihrer Großnichte Anne Claußnitzer (geb.1959) in Reutlingen. Die Diapositive, die sie für ihre Lehrtätigkeit verwendete, und viele Fotos werden an der University of California in Santa Cruz auf­ bewahrt. Weiteres Material, darunter ihre Korres- pondenz, lagert in anderen Archiven. Während der mehrjährigen Arbeit an diesem Buch habe ich eine Reihe von Menschen getroffen, die Sibyl Moholy-Nagy noch persönlich kannten. Vor allem die Interviews mit ihrer Tochter Hattula Moholy- Nagy erwiesen sich als überaus hilfreich. Auch ehe- malige Studierende und Kolleg_innen unterstützten mein Forschungsprojekt durch Auskünfte und Erinnerungen. Das Buch versteht sich als intellek- tuelle Biografie; seine Aufmerksamkeit gilt ins- besondere Sibyl Moholy-Nagys Veröffentlichungen; im Vordergrund stehen die kritische Beurteilung ihrer Ideen im Kontext der bestimmenden zeit- genössischen Kunst- und Architektur-Diskurse. Theo- retische Grundlage sind meine früheren Veröffent- lichungen zu Architektur und Moderne, 14 Architektur und Geschlecht  15 sowie zur Architekturtheorie. 16 Die Literatur zu Sibyl Moholy-Nagy ist nicht besonders umfangreich: Bislang gibt es nur eine einzige ihr gewidmete Buchveröffentlichung. Sie ist auf Deutsch verfasst, beruht auf einer päda- gogischen Dissertation und konzentriert sich in erster Linie auf das Innenleben und die psychische Entwicklung Sibyl Moholy-Nagys. 17 Im Übrigen beschränkt sich die Sekundärliteratur auf einige in den 1970er Jahren erschienene Aufsätze, 18 die Einführung in einen jüngst veröffentlichten Text von Sibyl Moholy-Nagy  19 und meine eigenen Veröffentlichungen. 20 Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Das erste, »Lebensweg«, erzählt die Biografie von Sibyl Moholy-Nagy und konzentriert sich auf ihre Familie, ihre persönlichen Beziehungen und ihr berufliches Netzwerk. Hier werden Fakten und Hintergründe mit biografischer Deutung in Einklang gebracht und ein Zusammenhang zwischen ihren privaten und professionellen Schriften hergestellt. Erzählt wird die Geschichte einer klugen und rebellischen jungen Frau, die nachhaltig am geistigen Leben und der Kultur ihrer Zeit mitwirken möchte. Der von ihr eingeschlagene Weg war voller Hindernisse und Ablenkungen: Oft am Rand der Erschöpfung stehend entwickelte sie die Fähigkeit, die Rollen von Witwe, Mutter, Wissenschaftlerin und Dozentin erfüllend miteinander zu verbinden. Das zweite Kapitel, »Anonyme Architekturen oder vom Nutzen der Geschichte«, geht Sibyl Moholy-Nagys Leidenschaft für historische Bau- formen auf den Grund und fragt, wie diese sich auf die Wahl ihrer wissenschaftlichen Themen und ihre Kritik an der modernen Architektur ausgewirkt haben. Nach dem Erscheinen der Biografie ihres Ehemanns verschaffte ihr die Publikation einer Untersuchung zu traditionellen Bauten Nordamerikas Glaubwürdigkeit als Architekturhistorikerin. Native Genius in Anonymous Architecture (1957)

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