Leseprobe
· 133 · schen 1903 und 1909 reiste er mehrmals dorthin, wohl wegen seiner theologischen Fokussierung ohne die Geschwister, die sich für Kunst, Architektur und Kultur interes- sierten. Als deutscher Prinz und Theologie-Professor konnte er wichtige politische und kirchliche Kontakte nutzen und hatte einfachen Zugang zu den Herrscherfami lien. 2 Mit seinem schnell anwachsenden Wissen über die politische Situation vor Ort, über die orthodoxen Kirchen, das Ju- dentum und den Islam, auch als Ergebnis von Begegnungen mit intensivem Gedan- ken- und Meinungsaustausch, vermochte er Konfliktlinien zu erkennen und die Ur- sachen politischer Spannungen zu verste- hen. Theologisch und kulturwissenschaft- lich faszinierte ihn die Welt der Orthodo- xie, die nach seiner Auffassung dem ur- sprünglichen Christentum näher war als die lateinische Kirche. Doch zurück zu Kreta. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verlor das Osma nische Reich Stück für Stück an Macht und Territorium. Aufstände, gespeist von einem neu erwachten Selbstbewusstsein bisher kolonialisierter Völker, stellten nicht nur für den »Kranken Mann am Bosporus« eine Gefahr dar, sondern für die gesamte Region. Kreta war davon in besonderer Weise be- troffen. Die Insel, deren Bevölkerung aus Christen und Muslimen bestand, war ein Spielball von Groß- und Mittelmächten. Nach einem Aufstand 1868 wurde den Kretern mehr Autonomie zugestanden, und 1895 setzte der osmanische Sultan einen christlichen Gouverneur ein. Die davon ausgelösten innenpolitischen Spannungen führten 1896 zu einem Massaker in der Stadt Iráklion (heute Heraklion), bei dem mehrere hundert Christen starben. Mit der Landung griechischer Truppen auf Kreta begann 1897 der Türkisch-Griechi sche Krieg, der mit einem Sieg des Osma- nischen Reichs endete. Durch den Frie- densvertrag vom Dezember 1897 erhielt Kreta auf Druck der Großmächte dennoch eine weitgehende Autonomie unter einem internationalen Protektorat bei formel- ler Oberhoheit des osmanischen Sultans. Jedoch blieb die Lage instabil, bis Kreta schließlich 1913 mit Griechenland ver einigt wurde. 3 Als die europäischen Mächte und die Hohe Pforte, das heißt die osmanischen Regierung, 1910 erneut über Kreta verhan- delten, griff Prinz Max mit einem Artikel »Die Kretafrage vom christlichen Stand- punkt aus betrachtet« ein, der am 26. Juni 1910 von der »Kölnischen Volkszeitung« abgedruckt wurde. Seine Argumentation war zunächst eine glaubensbezogene und theologische. So kritisierte er scharf, dass die sich als christlich bezeichnenden euro- päischen Mächte in Sachen Gottes kaum noch für ihre Glaubensanhänger Partei er- griffen. 4 Heutzutage, so schreibt er, »rührt man [...] keinen Finger, um sie zu befrei- en«. 5 Es sei aber ihre Pflicht, für die Befrei- ung der christlichen Bevölkerung aus der osmanischen Herrschaft zu sorgen. Wie der
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1