Leseprobe

· 149 · Andrea Pojer · Cornelia Assmann · Victor Lossau 2015 schreibt Anton Jungo in den Freibur- ger Nachrichten: »Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts konnte man in den Strassen Freiburgs einem Mann in abge- nutztem Priesterkleid, mit Regenschirm und Segeltuchschlappen, begleitet von einem schwarzen Hund, begegnen. [. . .] Doch kaum jemand dürfte gewusst haben, wer sich hinter dieser etwas schrulligen Person verbarg.« 1 Ein ehemaliger Student erinnert sich an diese Gestalt: »Er hat einfache, blaue Stoffsandalen getragen. Manchmal trug er Sandalen, manchmal aber auch ganz gewöhnliche blaue Turn- schuhe, wie sie früher im Tornister eines jeden Primärschülers anzutreffen waren. Es konnte nichts Groteskeres geben, als wenn der greise, vollkommen anspruchs- lose, fast verwahrlost wirkende Priester und Gelehrte sagte: ›Mein Bruder, der König!‹ [. . . D]urch alles hindurch sah ich immer wieder auf die blauen Turnschuhe des sonderbaren Priesters. Diese waren ihm mehr wert als das Ansehen des Adels, des ›blauen Blutes‹. Er wollte Anspruchslosig- keit und Liebe als die Grundlage des Völ- Vegetarismus, Tierschutz, Lebensreform und Abstinenz Links: Karikatur »Prinz de Saxe mit Netti«, Bleistiftzeichnung, um 1940. Rechts: Die Turnschuhe des Prinzen Max von Sachsen, Bildausschnitt aus seinem Arbeitszimmer in seiner letzten Wohnung in Bürglen, Foto, 1951. kerfriedens verkünden.« 2 Der Beschriebene ist kein anderer als Prinz Max von Sachsen. Jungo skizziert Max von Sachsen als kauzige Gestalt und tituliert ihn als »un- zeitgemäßen Propheten«. Die Schweizeri- sche Vereinigung für Vegetarier hingegen bezeichnet den Prinzen als »Reformpio- nier«. 3 Diese Beschreibungen und Bezeich- nungen von Max von Sachsen illustrieren, wie kontrovers seine Person gesehen wird. Aber nicht nur gegenwärtig, sondern schon zu seiner Zeit war der Prinz aufgrund seiner Lebensweise und Ideale umstritten. Der fol- gende Beitrag stellt dar, wie Vegetarismus und die Liebe zum Tier den Prinzen als »Kind seiner Zeit« kennzeichnen. Gleich- zeitig sind es gerade jene Verhaltensweisen, die ihn aus dem Rahmen fallen lassen. Das Lebensgefühl um 1900 in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches Seit Mitte des 19. Jahrhunderts zieht es im- mer mehr Menschen in die großen Städte. Leben 1871 gerade einmal fünf Prozent der deutschen Bevölkerung in Großstädten, sind es 1910 bereits 21 Prozent. 4 Der Zuzug in die Stadt führt zur Wohnungsnot. Miets- kasernen werden errichtet, in denen Arbei- terfamilien auf engstem Raum leben und diesen zum Teil noch untervermieten. Mit der Enge gehen mangelnde Hygiene und dadurch die rasche Ausbreitung von Krank- heiten einher. Aggression, Gewalt und Flucht vor alldem durch Alkoholkonsum sind an der Tagesordnung. Das Heim gilt daher »als Hölle, die Kneipe und das Bordell als Him-

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