Leseprobe

· 153 · Für Prinz Max ist Tolstoi ein Gedanken- bruder. Er übersetzt Passagen aus seinen Werken ins Deutsche und nimmt in den ei- genen Schriften Bezug auf ihn. In »What may we learn from Tolstoi?« (Was können wir von Tolstoi lernen?, 1930) lobt ihn der Prinz für seinen Einsatz für Abstinenz, Frie- den, Tierschutz und Vegetarismus. Prinz Max kennt die sozialen Probleme seiner Zeit, die in der Literatur diskutiert werden. Wider den Sittenverfall plädiert er für ein naturverbundenes Leben, fern von den inhumanen Bedingungen in den Fabriken und Großstädten. Lebensreform und Vegetarismus um 1900 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts versuchen soziale Reformbewegungen wie Garten- stadt- und Nacktbewegung den Missständen entgegenzuwirken. Subsumiert werden die Bestrebungen unter dem Begriff »Lebens- reform«. Die Gartenstadtbewegung sucht den schlechten Lebensbedingungen der Städte durch Begrünung zu entfliehen. In Ballungsgebieten entstehen dazu »privat entworfene Gartenstädte« 8 sowie »ge- meinnützige Vereinsschrebergärten«. 9 Monatliche Zeitschriften wie »Das Neue Leben – Im Lichte neuzeitlicher Erkennt­ nisse« verbreiten die reformerischen Ideen. Dr. Hans W. Schmidt begründet darin den Zusammenhang von Sport und Nacktkultur. »Gymnastik ist [...] nichts anderes als Nackt­ sport. [...] Nacktsport sagt [...] nicht etwa, dass der Sport um der Nacktheit willen ge- trieben werden soll, sondern dass hindernde Kleidung den Sport als solchen nicht beein- trächtigt.« 10 Max von Sachsen ist ähnlicher Ansicht, wenn er meint, dass es gesund sei, sich so zu kleiden, »daß die Luft reichlich Zutritt zum Körper hat. [...] Den bloßen Kopf – das gilt wenigstens für das männliche Ge- schlecht, was braucht man Hüte und Mützen, außer etwa bei außerordentlichem Sonnen- brand? – soll die frische Luft umrauschen.« 11 Deshalb setzt er den Hut, den er auf bischöf- lichen Wunsch tragen soll, nie auf, sondern trägt ihn unter dem Arm. Inspiriert ist die Nacktbewegung von Naturheilbewegungen, die Alternativen zur Schulmedizin sucht. Ebenso gehen auf die Naturheilbewegung vegetarische Reform- kostbewegungen zurück, die seit den 1860er Jahren an Bedeutung gewinnen. Die Idee, auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten, besteht seit der Antike. Als »Stammvater des Vegetarismus« 12 in Europa gilt Pytha- goras. Zwar lässt sich seine vegetarische Lebensweise mittels zeitgenössischer Quel- len nicht belegen, aber eine Reihe antiker Autoren im späten 3. Jahrhundert n. Chr., wie Porphyrios, Jamblichos und Diogenes Laertius, behaupten in ihren Viten über Py- thagoras, dass er Tieropfer sowie den Ge- nuss beseelter Nahrung abgelehnt habe. Im Christentum wird die vegetarische Idee anfänglich nur rudimentär rezipiert. Klös- terliche Gemeinschaften der Spätantike und des Mittelalters praktizieren als asketische Fastenübungen Fleischverzicht. Ein gene- relles Fleischverbot wird meist nicht aus­ gesprochen. Caesarius, der Erzbischof von Arles, zum Beispiel erlaubt Kranken Geflü- gel zu essen. Der heilige Benedikt von Nur- sia genehmigt sogar Gesunden Geflügel­ verzehr, während Kranke auch Fleisch von vierbeinigen Tieren zu sich nehmen durften. Mitte des 19. Jahrhunderts greift Pfarrer Eduard Baltzer die vegetarischen Gedanken neu auf und versucht sie biblisch-theolo- gisch zu begründen. 13 1903 publiziert er ein »Vegetarisches Kochbuch für Freunde der natürlichen Lebensweise«, das bereits 1908 in der 16. Auflage erscheint. Etwa zeitgleich bekennt sich der mit Baltzer befreundete Gustav Struve zum Vegetarismus und be- gründet 1868 die Vegetarische Gesellschaft Stuttgart e.V. Neben christlich-biblischen Begründun­ gen führt die Vegetarismusbewegung drei weitere Argumente an. Anfang des 20. Jahr- hunderts wächst die Nachfrage nach Wurst- und Fleischprodukten, sodass die Preise dafür steigen. Ökonomisch argumentieren Vegetarierverbände, dass durch den Fleisch- verzicht die Lebenshaltungskosten gesenkt werden. Der »hygienische Vegetarismus« 14 hingegen stützt sich auf medizinische Theo

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