Leseprobe

28 RO B E R T LO R E N Z Im Dichterwinkel. Christian Borchert in Wuischke/Wuježk Denkt man über die Kultur- und Kunstgeschichte der Ober- lausitz nach, so gelangt man immer wieder zu Begriffspaa- ren, die Spannungsfelder umreißen. Zwei zentrale hierbei sind Offenheit und Geschlossenheit sowie Weltläufigkeit und Peripherie. Die Spezifik der Oberlausitz liegt nun darin, dass diese Begriffspaare und die mit ihnen umrissenen Phäno- mene sich nicht in Amplituden ablösen, sondern gleichzeitig auftreten und oft aufeinander beziehen. Ein Ort, an dem dies für den Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten nachvollzogen werden kann, ist das deutsch-sorbische Dörfchen Wuischke/ Wujezˇk auf der Nordseite des Czorneboh/Cˇornobóh. Hier bildete sich in den 1970er Jahren um einige zentrale Lyrike- rinnen und Lyriker der DDR ein Künstlerfreundeskreis, der erst 1990 erlosch und zu dem über viele Jahre hinweg auch Christian Borchert zählte. Der Wuischker Kreis hat im Werk des bedeutenden Fotografen eine Spur hinterlassen, die bis- her nicht thematisiert wurde und der hier im Text und anhand einiger Bilder nachgegangen werden soll. Paul Kaiser und Claudia Petzold haben 1997 mit der Ausstel- lung »Boheme und Diktatur in der DDR« am Deutschen His- torischen Museum Berlin sowie dem gleichnamigen umfang- reichen Katalog eine bis heute in ihrer Ausführlichkeit und Bandbreite nicht übertroffene Gesamtschau der künstleri- schen Subkultur der DDR in den 1970er und 1980er Jahren vorgelegt. 1 Sie gingen in ihrem »Boheme«-Begriff dabei zu- nächst von Helmut Kreuzer und seiner unterdessen klassi- schen Definition von 1968 aus. Kreuzer macht im Zentrum vieler berühmter Boheme-Kreise oft charismatische Einzel- persönlichkeiten aus, die für einen gewissen Zeitraum des- sen Gravitationszentrum bilden. Die Kreise sind dabei nicht hermetisch abgeschlossen, sondern stehen temporären Gäs- ten bis weit ins bürgerliche Milieu hinein offen. Ihre festen Mitglieder eint ein programmatischer Individualismus, ein Wille zur Abweichung von der geltenden Norm und der Ver- such des wenigstens temporären Aufbaus einer nomadi- schen, ungebundenen Existenz. Oft werden symbolisch nicht konforme Distinktionsformen in Habitus, Jargon und Mode gewählt. 2 Diese Definition ist, das wird bei Kaiser und Petzold deutlich, nicht deckungsgleich auf die DDR in ihrer politischen Struk- turiertheit und ihre Boheme-Zirkel anwendbar. Denn auch wenn sich nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 unter der nun ausgegebenen Richtschnur von der »Weite und Vielfalt« für einige Jahre bisher ungeahnte Möglichkeitsräume eröffneten, darf man nicht verkennen, »[...] dass die Autonomiebestrebungen in der DDR unter den

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