Leseprobe

31 I m D i c h t e rw i n k e l Romantisierung des Künstlertums auf sowie eine gewisse Vorliebe für das Spiel mit kulturellen Codes des Bürgertums des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. In einer Konsequenz waren sie allerdings doch dem anarchischen Geist der »klassischen« Boheme verpflichtet – im »vollzoge- nen Ausstieg aus den Machtmechanismen und damit einher- gehend im freiwilligen Abschied von einer Kaderkarriere«. 8 Kaiser und Petzold rückten für ihr Ausstellungsprojekt über- wiegend Zirkel aus den Bezirksstätten als Beispiele dieser Abkehr ins Zentrum. Dass auch jenseits der wichtigen Städte in den ländlichen Regionen der DDR interessante und be- deutsame Gruppen bestanden, zeigt nicht zuletzt das Bei- spiel Wuischke/Wujezˇk im damaligen Bezirk Dresden, Kreis Bautzen. 9 In dem kleinen Ortsteil der Gemeinde Hochkirch/ Bukecy erwarb das Berliner Lyriker-Ehepaar Adolf Endler und Elke Erb zu Beginn der 1970er Jahre die ehemalige Wasser- mühle in der Bachaue am nördlichen Dorfrand, die sie als Zweitwohnsitz vor allem in der warmen Jahreshälfte bewohn- ten. 10 1976 zog der sorbische Lyriker Kito Lorenc mit seiner Familie in ein Bauerngehöft in der unmittelbaren Nachbar- schaft, um hier als einziges Mitglied des Wuischker Kreises ganzjährig als freischaffender Schriftsteller zu leben und zu arbeiten. Am Ende des Jahrzehnts trat schließlich noch Heinz Czechowski hinzu, der ein letztes benachbartes einstiges Bauerngehöft erwarb. Die drei Dichter-Grundstücke entwi- ckelten sich in den folgenden Jahren zum Mittelpunkt und temporären Lebensort einer sich jeden Sommer erneut oft für mehrere Wochen hier einfindenden Schar von Gästen, wobei Elke Erb über die gesamte Zeit des Bestehens hinweg die zentrale verbindende Größe der Gruppe darstellte. Zu den wiederkehrenden Besucherinnen und Besuchern gehörten unter anderen die Lyriker Sascha Anderson, Volker Braun, Benedikt Dyrlich, Rainer Kirsch, Wulf Kirsten, Uwe Kolbe, Brigitte Strutzyk, B. K. Tragelehn und Bernd Wagner, die Maler Horst Bachmann, Ralf Kerbach und A.R. Penck, die Foto­ grafen Christian Borchert, Ulrich Burchert und Helga Paris, der sorbische Komponist Juro Meˇtsˇk sowie häufig auch Lek- toren des Aufbau-, Reclam- und Domowina-Verlags, zu denen die Wuischker Dichter teils enge freundschaftliche Beziehun- gen unterhielten. Anhand dieses Personentableaus wird deutlich, dass Wuischke für über ein Jahrzehnt ein in dieser Konstellation in der DDR einzigartiger Begegnungsort für zentrale Akteure der Berliner Prenzlauer-Berg-Szene, der Sächsischen Dichterschule sowie der sorbischen Kunstszene wurde. Heinz Czechowski beschrieb 1991 in einem Text seine Wuisch- ker Jahre so: »In der DDR leistete sich, wer es konnte, eine Zweitwohnung auf dem Lande. Was für den Vermögenden eine Datscha am Seeufer war, war dem weniger Bemittelten ein leerstehendes Gehöft. Hier lebte man, wenn man bei- spielsweise Schriftsteller ist, verhältnismäßig unbehelligt vom Schriftstellerverband und der Partei. In den siebziger 8 Ebd., S. 19. 9 Die hier dargelegten Informationen zu Wuischke/Wujezˇk entstammen dem biografischen Wissen des Autors, der, 1977 geboren, seine Kindheit innerhalb des Wuischker Künstlerkreises erlebte, sowie den Lebenserinnerungen seiner Mutter. Bisher existiert keinerlei Übersichtstext über den Kreis mit seinen einzelnen Mitgliedern. 10 Vermittler des Kaufes war der bedeutende Oberlausitzer Maler Horst Bachmann, der in seinem Zweitberuf als Schätzer von Sturmschäden für die Versicherung in vielen Dörfern um Bautzen Gehöfte kannte, deren alt gewordene Besitzer Käufer suchten. Abb. 2 (oben) C H R I S T I A N B O R C H E R T | Wuischke/Wujezˇk im Winter 1981 Teilansicht des Dorfes gegen den Czorneboh/ Cˇ ornobóh. Das Bild wurde von der Wiese aus aufgenommen, die die Wasser- mühle und die beiden benachbarten Gehöfte, die im Dorf bald »Künstlerviertel« genannt wurden, räumlich vom restlichen Dorf trennt. Abb. 3 (unten) C H R I S T I A N B O R C H E R T | Die in den 1980er Jahren durch Frost und staatliche Vernachlässigung stark reparaturbedürftige Verbin- dungsstraße von Wuischke ins Nachbardorf Steindörfel/Trjebje´nca Die abgesägten und nicht wieder nachgepflanzten Obstbäume an den Straßen im Tal tauchen als Motiv in verschiedenen Texten von Kito Lorenc auf.

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