Leseprobe

76 AG N E S MAT T H I A S Latenz der Bilder. Neue Fotografien von Evelyn Richter Es ist der Topos des Fundes, der Entdeckung, was die Histo- riografie auf jedwedem Forschungsfeld forciert und dynami- siert: das Vergessene, das Verschwundene, das Unerwar- tete. 1 Das, was Entwicklungen plötzlich eine Wende nehmen lässt oder in einer Neuperspektivierung vermeintliche Ge- wissheiten infrage stellt. Zentraler Fund für die Fotoge- schichtsschreibung an sich ist die 1952 vom Fotografen und Sammler Helmut Gernsheim nach langer Recherche in einem Schiffskoffer in einem Londoner Lagerhaus entdeckte bis- lang älteste Fotografie der Welt: Joseph Nicéphore Niépces (1765– 1833) Heliografie, datiert auf 1826/27, die den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf dem Familiensitz Gras in Saint-Loup-de-Varennes zeigt. 2 Der sogenannte Me- xikanische Koffer aus dem Besitz von Robert Capa (1913 bis 1954), der im Jahr 2007 dem International Center of Photo­ graphy in New York übergeben wurde, stellt hingegen eine wichtige Entdeckung für den Bildjournalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Mit dem Inhalt dieses Koffers – drei Pappschachteln mit rund 4 300 verschollen geglaubten Negativen, die auf verschlungenen Wegen nach Mexiko City gelangt waren – verband sich die Hoffnung, endlich Aufklä- rung über die Entstehung von Capas berühmtester Fotografie aus dem Spanischen Bürgerkrieg, dem »Falling Soldier« aus dem Jahr 1936, zu erhalten, wobei jedoch genau diese Se- quenz auf keinem der Filmstreifen zu finden war. Was die Schachteln neben Negativen Capas aber beinhalteten, waren Aufnahmen von der Hand seiner Lebenspartnerin Gerta Taro (1910–1937). Nicht nur, dass deren Œuvre nun stärkere Kontur erhielt, auch wurde deutlich, dass Taro Autorin einiger Foto- grafien war, die man bislang Capa zugeordnet hatte. 3 Wie eng aber die Legendenbildung mit solchen Funden ver- bunden ist, verdeutlicht das Beispiel der Amerikanerin Vivian Maier (1926–2009), die als Autodidaktin exzessiv fotogra- fierte. Mit dem Aufspüren Zehntausender ihrer Negative auf einer Versteigerung kurz vor ihrem Tod und deren anschlie- ßender Vermarktung durch verschiedene Dritte ging ihre postume »Erfindung« als Protagonistin der amerikanischen »Street Photography« einher. 4 Fotohistoriografie ist also ein offener Prozess, ihr Betreiben bedeutet ein stetiges Neuschreiben, Umschreiben und Fort- schreiben – in kritischer Reflexion der Fakten, die sie speisen. Eine auf Funden wie den eben geschilderten basierende Fotogeschichte »ereignet« sich jedoch nicht nur in Metropo- len wie London und New York – obgleich mit zunehmender Dichte fotografischer Aktivitäten und ihrer Akteure auch die

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