Leseprobe

77 L at e n z d e r B i l d e r Wahrscheinlichkeit zufälliger Entdeckungen steigt –, sondern womöglich ebenso in der ländlichen Provinz. Einer solchen Begebenheit, die sich mit einem kleinen Ort in der Oberlau- sitz verbindet, sind die folgenden Ausführungen gewidmet. Neukirch war viele Jahre lang Wirkungsstätte von Evelyn Richter, einer der wichtigsten Protagonistinnen ostdeutscher Fotografie. Sie wurde 1930 in Bautzen geboren und wuchs in dem circa 15 Kilometer südwestlich davon gelegenen Städt- chen auf, das immer ihr Rückzugsort bleiben sollte. Nach einer Ausbildung zur Fotografin in Dresden bei Pan Walther (1921 – 1987) und Franz Fiedler (1885– 1956), deren lichtbildne- rische Gestaltungsprinzipien in ihren frühen Arbeiten unver- kennbar sind, begann sie 1953 ein Studium der angewandt ausgerichteten Fotografik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Inmitten der Formalismusdebatte »stößt Evelyn Richter mit ihren eigenständigen Interessen und Bildvorstellungen, die den Anforderungen einer realisti- schen sozialistischen Kunst fern sind, an der Hochschule auf sehr wenig Verständnis«. 5 Ihr wurde ein Stipendium gestri- chen, sodass sie ihren Lebensunterhalt mit Aufträgen finan- zieren musste. Einer Bitte um Beurlaubung vom Studium, um sich auf Prüfungen vorbereiten zu können, wurde nicht statt- gegeben; 1955 folgte die unfreiwillige Exmatrikulation. Fortan war Evelyn Richter freiberuflich tätig, so für die Leipziger Messe, veröffentlichte in Magazinen wie »Sybille« und be- fasste sich mit Publikationsprojekten wie dem mehrfach aufgelegten Sachbuch »Entwicklungswunder Mensch« 6 . 1981 kehrte sie mit Lehraufträgen und dann einer Dozentur an die Leipziger Hochschule zurück. Von 1991 bis 2001 hatte sie dort schließlich, in Würdigung ihres Wirkens, eine Professur inne. Evelyn Richters Name steht für eine sozialdokumentarisch grundierte, gleichwohl die Bilder immer als eigenständige künstlerische Aussage definierende Autorenfotografie – fast ausschließlich in Schwarz-Weiß, der mitvergrößerte Negativ- rand im Sinne einer »Straight Photography« als Ausweis des- sen, dass der Wirklichkeitsausschnitt allein auf das Bildfeld der Kamera, nicht auf die Bearbeitung in der Dunkelkammer zurückgeht. Mit einem kritischen wie empathischen Blick gemacht, erzählen die Fotografien vom Leben in der DDR, aber auch vom Leben an sich, davon, wie ein politisches System die Menschen einbindet und formt – und von den Freiräumen, die in jeder Gesellschaft gesucht und gefunden werden. Ihre Bilder sind fern jeglichen staatlich propagierten Ideals. Die berufstätigen Frauen, die sie in der Druckerei des »Neuen Deutschland« oder in der Kammgarnspinnerei in Leipzig porträtierte, sind gleichsam verschmolzen mit den großen Maschinen, die sie bedienen, verschwinden im Me- chanismus einer alles andere als heroischen Arbeit. Trans- portieren diese Aufnahmen mit ihren das Bildformat bis zum Rand ausfüllenden Motiven ein Gefühl der Enge, sind die städtischen Szenerien in Dresden, Leipzig oder Berlin mit dem Kontrast von marodem Altbau und architektonischer Moderne häufig von Leere und Weite gekennzeichnet. Der Mensch wirkt darin seltsam unbehaust, ist flüchtig unter- wegs wie die Frau auf dem Fahrrad unter den Brücken am 1 Eine erste, kürzere Fassung dieses Textes wurde publiziert in: Evelyn Richter. Von der Latenz der Bilder, Dresden 2018, S. 42–45. Diese Publikation erschien 2018 anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Ausstellungsraum bautzner69 in Dresden. Die Autorin dankt Karen Weinert und Werner Lieberknecht für Informa- tionen und die Bereitstellung von Bildmaterial. 2 Vgl. Helmut Gernsheim (in collaboration with Alison Gernsheim): The History of Photography from the Camera Obscura to the Beginning of the Modern Era, London 1969, S. 59 f. 3 Vgl. Irme Schaber: Gerda Taro – Fotoreporterin. Mit Robert Capa im Spanischen Bürgerkrieg. Die Biografie, Marburg 2013. 4 Vgl. John Maloof (Hg): Vivian Maier. Street Photographer, München 2001. 5 Jeannette Stoschek: Bilder im eigenen Auftrag. Eine Annäherung an das fotografi- sche Werk von Evelyn Richter, in: Evelyn Richter. Rückblick. Konzepte. Fragmente, Ausst.-Kat. Museum der bildenden Künste Leipzig, Bielefeld 2005, S. 14–27, hier S. 17. 6 Hans-Dieter Schmidt/Evelyn Richter: Entwicklungswunder Mensch, Leipzig 1980.

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