Leseprobe

78 Bahnhof Dresden-Pieschen. Ab Anfang der 1970er Jahre foto- grafierte Evelyn Richter in Zügen und Straßenbahnen als Or- ten des anonymen Aufeinandertreffens ihre Gegenüber, meist unbemerkt, als kurze Einblicke in das Leben der anderen. Ein wichtiges, über viele Jahre verfolgtes Thema war die Musik. In Bildnissen von Musikern wie dem russischen Geiger David Oistrach, Dirigenten oder dem Komponisten Paul Dessau suchte sie, wie Janos Frecot es formulierte, die »bildwirksame Seite der Musik« 7 sichtbar zu machen. Die Begegnungen mit diesen Persönlichkeiten, die in zwei Büchern resultierten, 8 nannte Evelyn Richter selbst »psychologische Arbeitspor­ träts« 9 . Während sie bei Konzertproben oder Aufführungen seriell vor- ging, um die Dynamik des Geschehens im Wirken von Musi- kern und Dirigent festzuhalten, legte sie die zahlreichen Por- träts von Künstlerinnen und Künstlern, die bei unterschied- lichsten Gelegenheiten entstanden, meist als Einzelbilder an. Bei einer Reise in die Sowjetunion 1957 anlässlich der Welt- festspiele der Jugend entstanden erste Aufnahmen vom Di- alog zwischen Mensch und Kunstwerk, den sie in späteren Arbeiten in frappierende Parallelen von Mimik und Gestik übersetzte, wobei die Kunst als Metapher für überindividu- elle Gemütslagen steht, so wie bei der ernst blickenden Frau vor Wolfgang Mattheuers Gemälde »Die Ausgezeichnete« im Dresdner Albertinum 1975. So sind viele von Evelyn Richters auf genauer und einfühlsamer Beobachtung basierende Fotografien von einer melancholi- schen, jedoch nicht resignativen Grundstimmung durchzogen. Den politischen Umbruch 1989 dokumentierte sie aus der Perspektive der Demonstranten als ein Ereignis, das in erster Linie von Menschen handelt. Das Ende der DDR bedeutete für die Fotografin auch, nun ungehindert reisen zu können, häufig im Zusammenhang von Ausstellungsprojekten. Zuvor lagen ihre Ziele vor allem in den östlichen Nachbarländern, der Tschechoslowakei mit Prag etwa. Nach Moskau reiste sie wiederholt, manchmal im Auftrag von Zeitschriften wie der »Sybille«, um Freunde zu besuchen oder um mit David Oist- rach am gemeinsamen Buch zu arbeiten. Zu den wenigen Westreisen nach einem Besuch der Ausstellung »Family of Man« in West-Berlin im Herbst 1955 zählten ein Aufenthalt 1981 in Köln auf Einladung von L. Fritz Gruber, dem Begründer der photokina, oder 1987 ein Besuch des Fotofestivals Recontres d’Arles, wo sie mit einem Einzelbeitrag beteiligt war. 10 Fotogeschichte bedeutet, folgt man dieser werkbiografi- schen Skizze, immer auch Lebensgeschichte. Neukirch war der Ort, an dem die Familie von Evelyn Richter vor einigen Jahren in Taschen, Koffern und im Kühlschrank zahlreiche Filme entdeckte. Im Jahr 2013 erlitt die Fotografin einen Schlaganfall und musste daraufhin ihr Haus aufgeben. Wer- ner Lieberknecht (*1961), Dresdner Fotograf und langjähriger Freund von Evelyn Richter, wurde gebeten, die Filme zu prü- fen. Dabei stellte sich heraus, dass 72 davon zwar belichtet, aber nicht entwickelt worden waren; Evelyn Richter hatte das umfangreiche Material nicht mehr ausarbeiten können. 7 Janos Frecot: Zu Evelyn Richters Fotografien aus der Welt der Musik, in: Evelyn Richter. Rückblick. Konzepte. Fragmente, Ausst.-Kat. Museum der bildenden Künste Leipzig, Bielefeld 2005, S. 210–215, hier S. 210. 8 David Oistrach. Ein Arbeitsporträt, fotografiert von Evelyn Richter. Mit einem Essay von Ernst Krause, Berlin 1973; Paul Dessau. Aus Gesprächen. Lebensdaten, Werkverzeichnis, Diskografie und Literaturverzeichnis: Fritz Hennenberg, Fotografie und Bildgestaltung: Evelyn Richter, Leipzig 1974. 9 Frecot, Richter (wie Anm. 7), S. 212. 10 Für Hinweise zu den Reisen dankt die Autorin Peter Richter. 11 Vgl. www.evelyn-richter-archiv.de/ (letzter Zugriff am 7. 8. 2018).

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