Leseprobe

79 L at e n z d e r B i l d e r Die Bedeutung, die mit dem Fund der Filme einhergeht, besteht in jenem Momentum des Unerwarteten, dass näm- lich ein aufgrund der persönlichen Lebensumstände als abgeschlossen geltendes Werk plötzlich eine nicht nur quantitative, sondern vor allem eine qualitative Erweiterung erfährt. Der Eindruck, dass Evelyn Richters Lebenswerk vollendet war, resultierte nicht zuletzt aus der 2009 erfolg- ten Übergabe eines Hauptteils ihres fotografischen Vorlas- ses an das Museum der bildenden Künste Leipzig und der damit einhergehenden Einrichtung des Evelyn-Richter-Archivs durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung. 11 Doch die nun geborgenen rund 1 700 Aufnahmen veranschauli- chen, dass gerade das erste Dezennium der 2000er Jahre für Evelyn Richter ein äußerst aktives war, gefüllt mit zahl- reichen Reisen. Wie aber nähert man sich diesen Bildern an, welches Er- kenntnisinteresse soll ihre Erschließung leiten? Sich allein auf eine Auswertung der Motive zu konzentrieren, wäre an- gesichts der besonderen Bedingungen, unter denen sie über- haupt »Bild« werden konnten, nicht ausreichend. Im Fund der Filme verbirgt sich vielmehr die Frage nach der Bedingtheit des fotografischen Bildes selbst – nämlich die, wann und unter welchen Bedingungen eine Fotografie zu einer Fotogra- fie wird und welche Akteure daran beteiligt sind. Auf einem der letzten Filme, die Evelyn Richter 2012 belich- tete, gibt es ein Selbstporträt, das sie im Michail-Bulgakow-Museum in Moskau aufgenommen hat (Abb. 1). Man sieht die Fotografin, die Kamera mit beiden Händen haltend, wie sie in den Sucher blickt und den Auslöser betätigt – gespiegelt in einem kleinen Toilettenschränkchen in der Küche der ehe- maligen Kommunalwohnung, in der der russische Schriftstel- ler Ende der 1920er Jahre gelebt hatte. Es ist eine komplexe Komposition, in die sich das Selbstbildnis fast nebensächlich einfügt. Als zweites Bild im Bild befindet sich leicht versetzt oberhalb davon das Porträt einer älteren Frau, Anna Gorjat- schewa, Bulgakows damaliger Nachbarin, hinter Glas, das, wie der Spiegel, die Umgebung reflektiert. An einem Ort, an dem der Schriftsteller wesentliche Teile seines fantastischen Gesellschaftsromans »Der Meister und Margarita« spielen ließ, werden mit den verschiedenen Bildsphären die Reali- tätsebenen miteinander verwoben. Zwischen einfachem und doppeltem Abbild, fotografierter Wirklichkeit und zweifach fotografierter Wirklichkeit zu unterscheiden, ist nicht ganz Abb. 1 E V E LY N R I C H T E R | Selbstporträt, Michail-Bulgakow- Museum, Moskau | 2012 Silbergelatinepapier

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