Leseprobe
80 einfach. Evelyn Richter reiht sich mit dieser Aufnahme ikono grafisch ein in die Tradition künstlerischer Selbstporträts mit Kamera im Spiegel, ein gestalterisches Konzept, mit dem sie selbst wiederholt gearbeitet hat. 12 Im Zusammenhang der geborgenen Filme aber kommt dem Moskauer Selbstporträt im Spiegel noch eine andere, eine essenzielle Bedeutung zu. In ihm wird der Ur-Moment jeder analog hergestellten Fotografie in der vollständigen Überein- stimmung von Vorgang und Sujet herausgestellt: nämlich jener Augenblick, in dem sich die Blende für den Bruchteil einer Sekunde öffnet und das Licht auf die sensible Emulsion mit den darin eingelagerten Silbersalzen fällt. Mit dem Ein- schreiben der Bildinformation in den Film geht unmittelbar eine zeitliche Dimension einher. Mit der Aufnahme hat die Fotografin einen Gegenwartsmoment fixiert, in eine Zukunft hinein gerichtet, der damit sogleich zur Vergangenheit wird. Der Zustand aber, in dem der konservierte Augenblick zu- nächst verbleibt, ist jener der Latenz: Das Bild ist auf dem Film zwar vorhanden, aber nicht sichtbar. In einem Fotohandbuch aus dem Jahr 1955 heißt es dazu: »Das belichtete Negativ zeigt noch kein Bild. Die vom Licht erzeugten Eindrücke (das latente Bild) müssen erst hervor- gerufen werden, und zwar in einem Entwickler. Der Entwick- ler hat die Eigenschaft, die Stellen des Negativs, die vom Licht getroffen sind, zu schwärzen, und zwar umso mehr, je stärker die Negativstellen belichtet wurden. Er reduziert das belichtete Bromsilber zu schwarzem, undurchsichtigem, me- tallischem Silber.« 13 Das »latente Bild« geht jedoch über diese fototechnische Definition hinaus. Es steht im ontologi- schen Sinne für jene Potenzialität, die sich, anders als beim sofort im Display sichtbaren digitalen Bild, mit jeder analog hergestellten Fotografie verbindet. Die in der lichtempfindli- chen Schicht gespeicherte Information kann, aber muss nicht durch den Prozess von Entwicklung und anschließen- der Vergrößerung abgerufen werden. Vielleicht nur einmal kurz im Sucher als »Bild« wahrgenommen, kann dieses für immer im Status des Nichtgesehenen verbleiben. Peter Gei- mer hat diese Konstellation als einen Dreischritt beschrie- ben: als »unsichtbare Aufzeichnung/Zeit der Latenz/fotogra- fische Sichtbarmachung«. 14 Das Selbstbildnis im Spiegel der damals 82-jährigen Evelyn Richter ist die letzte Aufnahme auf dem 2012 in Moskau be- lichteten Film als Dokument ihrer letzten unternommenen Reise. Bereits in den 1990er Jahren war Evelyn Richter viel unterwegs; Material aus dieser Zeit, in der sie anfing, auch in Farbe zu fotografieren, hat sie jedoch nie ausgearbeitet. Viele der nun aufgefundenen Filme sind Zeugnisse ihrer Rei- sen in den Jahren zwischen 2003 und 2012. Lesbar werden sie in Form der von Werner Lieberknecht angefertigten Kontakte auf digitaler Basis. Eine Reise nach New York machte den Auftakt. Ausgangspunkt waren Ausstellungen im Goethe-Institut Washington und in der Leica Gallery in New York im Jahr 2003. Eine Ausstellung war es auch, die sie im Herbst 2007 nach Großbritannien führte. Die Kunstgalerie der Uni- versity of Hertfordshire zeigte »Do Not Refreeze. Photogra- phy behind the Berlin Wall« – für Evelyn Richter Gelegenheit, London und seine Museen zu besuchen. Andere Fahrten unternahm Evelyn Richter mit dem Bautzener Kunstverein: 2009 nach Italien zur Biennale nach Venedig, 2010 in die im Norden Rumäniens gelegene Region Maramures¸ 12 Immer wieder hat Evelyn Richter spiegelnde Flächen dazu genutzt, sich selbst zu fotografieren, etwa 1985 in der Ausstellung »Junge Fotografen der 80er Jahre« in der Galerie Mitte in Dresden oder 1988 in einer Ausstellung des Bauhaus-Archivs Berlin im Bauhaus Dessau. 13 Otto Croy: Bild-Lehrbuch der Fotografie, Halle/Saale 1955, S. 92. 14 Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010, S. 219.
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