Leseprobe

14 sen. 14 Obwohl sich Duchamp bemüht, beide Bereiche gleichrangig zu behandeln, räumt er – vermutlich aus pragmatischen Erwägungen – ein, dass doch der wissenschaftlichen Aussage gegenüber der künstleri- schen eine gewisse Vorherrschaft zuzugestehen sei: »Letzten Endes müssen wir diese sogenannten Gesetze der Wissenschaft akzeptieren, weil es das Leben bequemer macht, aber das heißt überhaupt nichts, was ihre Gültigkeit betrifft. Vielleicht ist eben alles nur eine Täuschung. Wir mögen uns selber so gern, wir glauben, wir seien kleine Götter auf Erden – ich habe darüber meine Zweifel, das ist alles.« 15 Um 1903 begann Duchamp, sich mit Ésprit-Pascal Jouffrets Trak­ tat einer mehrdimensionalen Geometrie zu beschäftigen, die zunächst hinsichtlich der Entwicklung des Kubismus eine zentrale Rolle spielte. 16 Die Bedeutung der Geometrie wurde dann ab 1911 im Hause Jacques Villons in Puteaux erörtert. Durch Maurice Princet gewannen zunehmend die Puteaux-Gespräche an mathematischer Tiefe, vor allem Fragen der Simultaneität und Bewegung spielen in den Werken Marcel Duchamps, František Kupkas, Albert Gleizes und Jean Metzingers eine Rolle. 17 In Puteaux rückten ferner Leonardo da Vincis Traktate über Kunst undWis- senschaft in die Diskussion, dessen Codices zwischen 1889 und 1891 von Charles Revaisson-Mollien herausgegeben worden waren (Abb.1). 18 In Auseinandersetzung mit den Leonardo-Codices entstand Du­ champs Schachtel von 1914, die zugleich erste Überlegungen zum Gro­ ßen Glas enthält. 19 Duchamp entwickelte dort bereits imAnsatz seinen erweiterten Kunstbegriff, der sowohl Zufall, Mechanik als auch Erotik und Humor einbezieht. Zahlreiche Ideen, die an den Renaissance-Künstler Leonardo anknüpfen, werden im Großen Glas umgesetzt, zum Beispiel seine sogenannte »Staubzucht« (Abb. 2), die er als Mög- lichkeit verstand, Zeit in neuer Form zu messen, und diese gleichsam als neue Form der Landschaft deutet: «Meine Landschaften beginnen dort, wo da Vincis enden.« 20 Duchamps sogenanntes neues Normmaß, das er im Kontext der 3 Stoppages étalon von 1913–1914 entwickelte, nutzte er, um im Großen Glas die Verbindung der Männischen Guss­ formen zu den Sieben herzustellen. Ihre Generierung verdankte sich dem Zufall, der letztlich auch die Grundlage für seinen alternativen Kunstbegriff bildet. The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, Even / Die Jungfrau von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (Abb. 3), auch das Große Glas genannt, fungiert einerseits als Allegorie der Braut, andererseits aber auch als Reflexionsgegenstand. Die Versuche, zur Grenzüberschreitung innerhalb der Kunst zu gelangen, gestalteten sich im Kunstgeschehen der beginnenden 1910er Jahre äußerst vielschichtig. Kandinsky, Malewitsch oder Mondrian stell- ten ihrerseits grundlegende Fragen, 21 die den Status des Kunstwerks betreffen. Ihr zentrales Anliegen gründet in der Formulierung einer abso- luten Kunst, die von der äußeren Gegenständlichkeit abstrahiert und das 3 Marcel Duchamp Fotografie Das Große Glas in der Ausstellung der Société Anonyme Brooklyn-Museum, New York 1926–1927

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