Leseprobe
36 Für Thomas Egelkamp kommt »Transformation dem griechi- schen Begriff der Metamorphose sehr nahe. Er bedeutet Verwandeln aus dem Prozess heraus«, 4 was einem Work in progress vergleichbar ist. »Jeder Prozessschritt fordert den nächsten Schritt heraus.Aber nicht im Sinne eines additiven und vorhersehbaren Handelns, sondern als ein offenes und spielerisches Vorgehen.« 5 Somit ist das Gelingen eines Transformationsprozesses sowohl von der »erhöhten Aufmerksamkeit und Konzentration beim Gestalten« abhängig als auch von der »Bereit- schaft situativ und intuitiv aus der Sache heraus zu reagieren und gege- benenfalls das Vorgehen zu verändern«. 6 Duchamp verweist in seiner Rede »The Creative Act«, die er auf der Konferenz in Houston (Texas) im April 1957 hielt, auf »die beiden Pole jeder Kunstschöpfung«: auf der einen Seite steht der Künstler, auf der anderen der Rezipient, welcher später zur Nachwelt wird. 7 Indem der Betrachter seine Fragen, seine Ideen, seine Gedanken in den Prozess der Aneignung einbringt, wird die Rezeption selbst zum lebendigen Vorgang, zum eigentlichen Werk. Mit seinem Verständnis von Kunst befreite Duchamp den Betrachter aus einer kunst- bzw. kulturgeprägtenWahrnehmung. Erstmals tritt dieser als freies Individuum dem Werk gegenüber. Für Duchamp stellte Kunst die »einzige Form der Betätigung [dar], durch die der Mensch als Mensch sich als wahres Individuum zeigt und imstande ist, über den animali- schen Zustand hinauszugehen«. 8 Von der Statik zur Bewegung Um Transformationsprozesse zu vollziehen oder diese vollziehbar wer- den zu lassen, bedarf es der Bewegung. Ihre Darstellung wurde zum zentralen Thema futuristischer Künstler. Sie begeisterten sich für die technischen Neuerungen ihrer Zeit wie Lokomotiven, Autos, Maschinen und Eisenstahlkonstruktionen wie den Eifelturm. Diese wurden zu Meta- phern der modernen Gesellschaft.Wegweisende Impulse für deren bild- liche Darstellung kamen von der Fotografie. Experimente von Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey waren auch Duchamp nicht nur bekannt, sondern sie faszinierten und inspirierten ihn mehr als beispiels- weise der Schreitende Mann von Auguste Rodin. Nachweislich flossen Anregungen von Chronofotografien in die Gestaltung des Gemäldes Akt, die Treppe herabsteigend 9 ein, an dem Duchamp 1912 arbeitete. Das Motiv stellte für ihn »eine Organisation kinetischer Elemente [dar], [es ist] ein Ausdruck von Zeit und Raum durch den abstrakten Ausdruck von Bewegung«. 10 In diesem Bild, von dem sich in der Schweriner Sammlung eine farbige Kollotypie von 1937 befindet (Abb. 2), thematisierte er erstmals die Frage der Transformation von einer statischen in eine dynamische Bildauffassung. Allerdings stießen seine Ergebnisse zunächst nicht auf Zuspruch, sondern auf Ablehnung. Die Jury forderte ihn auf, sein Ge 2 Marcel Duchamp Akt, eine Treppe herabsteigend , 1937
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