Leseprobe
68 Duchamps Werke prägen sich ein: Sie lassen den Betrachter nachhaltig beeindruckt zurück. Hat man das Objekt einmal betrachtet, wird man es nicht mehr vergessen. Es findet Eingang in das innere Gedächtnis des jeweiligen Betrachters und kann neue Anwendung fin- den. So erklärt Duchamp die Anschauung eines Readymades: »Es muß eigentlich nicht angeschaut werden. Es ist einfach da, man nimmt mit den Augen Kenntnis davon, daß es existiert. Aber man betrachtet es nicht so, wie man ein Bild betrachtet [...].« 1 Der wichtigste Impuls, der von Duchamps Werk ausgeht und eine Öffnung seines Œuvres veranlasst hat, ist die Setzung des Rea- dymades ab 1913. Indem er bereits seriell gefertigte Produkte schlicht signiert und als eigenständige Kunstwerke deklariert, tritt alles Hand- werkliche in den Hintergrund. Daraus resultiert eine Öffnung dahinge- hend, dass nicht mehr nur die klassische Malerei und Plastik als Kunst gilt, sondern jedes Objekt durch Signierung und öffentliche Präsentation im Ausstellungsraum zu einem Kunstwerk erhoben werden kann. Im Zuge dessen entzieht sich Duchamp komplett der Malerei, obwohl sein Frühwerk malerisch begonnen hat. Er brach mit dem klassisch gelehr- ten Medium und der damit verbundenen traditionellen Vorstellung von Kunst und der Definition des Künstlers, um eigene individuelle Lösun- gen zu finden. Das Readymade zielt sowohl auf das alltägliche Umfeld des Künstlers, auf den Zeitgeist, als auch auf den kunstimmanenten Diskurs ab und spiegelt Themen der Entwicklung in Wissenschaft und Literatur wider. Bis in die 1960er Jahre bleibt das Readymade, die indus- trielle Fertigware, der Kunstwelt weitestgehend verborgen. Erst der »Zweitauflage« verdanken die meist bereits entsorgten Alltagsobjekte ihren heutigen Ruf. An den Objekten haftet der Geist der Massenfertigung, welcher normalerweise die wirtschaftliche Durchschlagskraft dieser unterstützt. Duchamp hält die Produktion aber vergleichsweise gering und steigert das Interesse des kaufenden Kunstpublikums, indem er seine Objekte rar macht. Das Readymade erweitert den Kunstbegriff und ermöglicht die Einbeziehung aller Kunstgattungen. Dies lädt auch Künstler anderer Disziplinen geradezu ein, sich unter Zuhilfenahme Duchamps Werk künstlerisch zu positionieren. Duchamp hat sein Werk mit großen technischen und stilisti- schen Brüchen versehen: So vollzieht er einen Ad-hoc-Wandel von der klassischen Malerei und Zeichenkunst hin zu den Readymades und seinem abstrahierten Hauptwerk, The Large Glas, The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, Even / Das Große Glas, die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (1915–1923), um schließlich im bedeutensten Spätwerk Étant donnés: 1° La chute d’eau, 2° Le gaz d’éc lairage / Gegeben sei: 1. Der Wasserfall, 2. Das Leuchtgas (1946–1966)
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