Leseprobe
12 M Marcel Duchamps Œuvre ist durch vielfältige Brüche, Verwerfungen und Negationen bestimmt, die im Kontext der Moderne nahezu alle Bereiche der Kunst betreffen. 2 Handschriftlichkeit, wie sie für traditionelle Malerei, Plastik und Zeichnung gilt, gibt Duchamp um 1913 auf, stattdessen wählt er bereits fertige Gegenstände, Fotografien und Drucke aus, die er zwei Jahre später als Readymades bezeichnen wird. Industriell gefertigte Gegenstände treten an die Stelle von mit Pinsel und Spachtel oder Ham- mer und Meißel ausgeführtenWerken.Ebenso kennzeichnen unterschiedliche, bis dato nicht-künstlerische Materialien und Objekte seine Arbei- ten, deren Themen und Sujets als Zitate immer wieder in neuen Werken auftauchen. Duchamps Œuvre fordert zumWiderspruch heraus, denn er wendet sich gegen etablierte künstlerische Methoden genauso wie ge gen bislang bewährte Begrifflichkeiten. Insbesondere kritisiert er den Originalitätsbegriff 3 wie auch den damit verbundenenWahrheitsanspruch. Mit seinem Kunstbegriff versucht Duchamp, sich jenseits der Grenzziehung zwischen Kunst und Alltag, dem Schönen und Häss lichen, demWahren und Falschen zu bewegen. 4 Technik, Wissenschaft, aber auch Ironie und Kritik avancieren ihrerseits in seinen Werken zu neuen Fixpunkten. Damit richtet er sich gegen formale Erwartungen, bestehende Ordnungsvorstellungen und Werte. Seine Anti-Haltung, die demAvantgardeprinzip der Negation verpflichtet ist, zielt im Sinne Theo- dor W. Adornos gegen die alleinige Definitionsmacht der Malerei als Kunst: »[...] Malerei sollte mit Farben gemacht werden, Malerei sollte mit Bleistift, mit Pinsel gemacht werden, und wenn sie etwas nehmen, das nicht mit diesen technischen Instrumenten gemacht ist, dann wissen Sie nicht mehr, wo Sie sind, Sie [gemeint sind die Rezipienten, Anm. des Verf.] wissen nicht mehr, ob Sie das für ein Kunstwerk halten sollen.« 5 Das Kunstwerk verliert aufgrund der Erweiterung des Kunstbe- griffs scheinbar sein ästhetisches Fundament, da es sich von den bekannten Gestaltungen gelöst hat. Hans Belting spricht vom »unsicht- baren Meisterwerk«, 6 das durch Duchamp in die Diskussion gelangte und zum vielbeschworenen Mythos der Moderne aufgestiegen sei. In dieser Entwicklung kommt insbesondere dem Readymade eine zentrale Bedeutung zu, weil es seine Existenz allein dem Prinzip der Auswahl von vermeintlich bekannten Objekten verdankt und in ihm das Ephemere gegenüber dem ästhetisch Besonderen als gleichrangig behandelt wird. 7 Duchamp wertet damit seinerseits den Mythos des flanierenden Künstlers auf, der seine Inspiration auf den Streifzügen durch den urba-
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