Leseprobe
9 treibt es ihn von Stadt zu Stadt, zwischen St. Petersburg und Gibraltar, Glasgow und Kon- stantinopel. Von Marie d’Agoult hat er sich getrennt. In der Ukraine begegnet er 1847 Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein, die ihren Mann verlässt und ihm folgt. Im Alter von 36 Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, zieht sich Liszt als Konzert pianist zurück. Er sucht nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen. In Weimar, das nach dem Tod Goethes und Schillers von seiner großen Vergangenheit träumt, nimmt er die für ihn bescheidene Stelle des Hofkapellmeisters an. Sein Orchester wird jahrelang nie mehr als 40 Musiker umfassen. Zusammen mit Carolyne bewohnt er die Weimarer Alten- burg. Hier entstehen seine bedeutendsten Werke, die Symphonischen Dichtungen, die Klavierkonzerte, die h-moll-Sonate . Und wieder umdrängen ihn Künstler und Gelehrte: Alexander von Humboldt, Varnhagen von Ense, Hoffmann von Fallersleben, Emanuel Geibel, Friedrich Hebbel, Wilhelm von Kaulbach, Moritz von Schwind, Adolf von Menzel, Friedrich Preller und Ernst Rietschel. Man verehrt ihn, nur wenige – darunter leider auch Johannes Brahms – lehnen ihn ab, niemanden aber lässt er gleichgültig. Anton Rubinstein, Peter Cornelius, Joachim Raff, Hans von Bülow und Carl Tausig werden seine Schüler und genießen oft monatelang seine großzügige Gastfreundschaft auf der Altenburg – das meis- terliche Vorbild stets vor Augen. 1848 festigt sich seine Freundschaft zu Wagner, dessen Werk in Weimar seinen Siegeszug beginnt. Anlässlich eines Banketts 1876 in Bayreuth bekennt Wagner, indem er auf Liszt zeigt: »Hier ist derjenige, welcher mir zuerst diesen Glauben entgegengetragen, als noch keiner etwas von mir wusste, und ohne den Sie heute vielleicht keine Note von mir gehört haben würden, mein lieber Freund Franz Liszt.« Rom, die heilige Stadt, öffnet ihm die Pforten. Hier legt er das Abbé-Gewand an, ein lang ersehnter Jugendtraum. In den Klöstern Madonna del Rosario und St. Francesca Romana, im Vatikan und vor allem in der Villa d’Este entwickelt er eine rastlose kompositorische Arbeit mit dem Akzent auf kirchenmusikalischen Werken. Sein Schüler August Stradal schildert Liszts Behausung: »Ein steinerner Betstuhl, ein einfacher Tisch! Eine tiefe Trau- rigkeit kam über mich. Nach einem Leben, erfüllt von den allergrößten Erfolgen, die je ein Musiker hatte – die Armut, Entbehrung und Versinken in weltfremde Einsamkeit! Ich sah zwei Welten: Liszt, der mit Ehren und Auszeichnungen von den höchsten Potentaten überschüttet ganz Europa durchzog, und dann St. Maria del Rosario!« Der Großherzog Carl Alexander ruft ihn 1869 nach Weimar zurück. In der nun folgenden Zeit verbringt Liszt je ein Drittel des Jahres in Weimar, Budapest und Rom, ständig um geben von der künftigen europäischen Pianistenelite, unter ihnen Eugen d’Albert, Sophie Menter, Emil von Sauer und Alexander Siloti. Komponisten wie Edvard Grieg, Bedřich Smetana und Alexander Borodin suchen ihn auf, um sich Rat zu holen, und niemand verlässt ihn ohne Unterstützung – oft in Form einer gefüllten Börse. Es gibt in der Musik- geschichte keine Parallele zu einer solchen Hingabe an die Musik und die Musiker. Das Todesjahr 1886: Noch einmal begibt sich der 75-Jährige auf Reisen. Rom, Budapest, Lüttich, Paris, London, Antwerpen, Brüssel, Weimar, Luxemburg sind einige der Stationen.
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