Leseprobe

10 Die Städte, die dem Virtuosen einst zu Füßen lagen, überhäufen jetzt den Komponisten mit Ehrungen. Seine früher vielfach abgelehnten Werke finden nun unerwartet freund- liche Aufnahme. Die Menschen scheinen zu ahnen, dass sie dieser beeindruckenden Musi- kerpersönlichkeit mit dem langen silberweißen Haar ein letztes Mal begegnen. Todkrank, fast erblindet, kommt er auf Wunsch Cosimas zu den Bayreuther Festspielen. Er besucht die Parsifal- und Tristan- Aufführungen, in der Wagner-Loge an eine Säule gelehnt, den quälenden Husten mühsam unterdrückend, um die Vorstellung nicht zu stören. Wenig später liegt er, von Schmerzen gepeinigt, auf dem Totenbett. Am 31. Juli 1886 schließt Franz Liszt für immer die Augen. »Mit Franz Liszt ist eine der merkwürdigsten und glänzendsten Inkarnationen des moder- nen Geistes heimgegangen. Nie war ein Künstler gefeierter, ein Mann umschwärmter, eine Persönlichkeit populärer als Liszt. Jedes Kind kannte diesen scharf modellierten, majestätischen Kopf mit dem glatt herabhängenden Haar, den unter energisch vorragen- den Stirnknochen so geistvoll leuchtenden Augen, den feinen, an den Mundwinkeln iro- nisch nach aufwärts gezogenen Lippen. Es gab kein prägnanteres und kein bekannteres Gesicht in Europa. Wir gedenken des Momentes, da Liszt vor fünf Jahren [es war am 3. April 1879, also vor sieben Jahren] mitten in einer Quartett-Soirée als bescheidener Zuhörer den Wiener Musikvereinssaal betrat und das ganze Publikum, zu ihm gewendet, plötzlich in spontanen, anhaltenden Applaus ausbrach. Dasselbe geschah in Paris, in London – wo nicht? [...] Es steckte ein unwiderstehlicher Zauber in Liszts Persönlichkeit, welche, so frei und offen daliegend, doch immer zugleich einen geheimnisvollen Winkel barg. Immer geistvoll erregt, schlagfertig, teilnehmend an allen Interessen der Kunst undWissenschaft, der Gesellschaft und Politik, voll edlen, werktätigen Mitgefühls für die Menschheit und voll Liebenswürdigkeit gegen den Einzelnen [...]« Dies schrieb 1886 in einem ausführlichen Nachruf ein Mann, der eigentlich ein erbitterter Gegner Liszts war, nämlich Eduard Hans- lick, der wohl bekannteste Musikkritiker des 19. Jahrhunderts. Er betonte dabei den Zauber und die Faszination, die von Liszt ausgegangen war. Liszt sei »seinerzeit unstreitig die bekannteste Persönlichkeit in Europa« gewesen. »Wie gewaltig, wie erschütternd wirkte schon seine bloße Erscheinung«, hatte Heinrich Heine bereits 1844 festgestellt, und Ernst Rietschel äußerte in einem Brief von 28. Januar 1855 über Liszt: »Es kommt solch Gesicht vom Künstler selten unter die Hand.« Ferdinand Gregorovius schließlich schilderte 1862 Liszt als »auffallende, dämonische Erscheinung«. So ist es nicht verwunderlich, dass Liszt gerade für die Photographen eines der lohnend­ sten Objekte war. Kein anderer kann für sich in Anspruch nehmen, von so vielen bedeu- tenden Lichtbildnern portraitiert worden zu sein: Hermann Biow, Franz Hanfstaengl, Adam-Salomon, Pierre Petit, Fritz Luckhardt, Louis Held, Nadar – um nur einige zu nennen. Dass es von Liszt so viele Photographien gibt, sollte man ihm nicht als Eitelkeit auslegen. Die Photographen rissen sich um ihn, versprachen sie sich doch bei seinen zahllosen Ver- ehrern einen profitbringenden Absatz ihrer Bilder. Oft schleppten ihn auch Freunde oder Schüler für ein Erinnerungsphoto ins Atelier, auf diese Weise entstanden die meisten

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