Leseprobe

47 2 Francesco di Giorgio Martini Siena 1439–1501 bei Siena Nackter Mann mit Schlange Siena, um 1495 (?) Bronze; H. 113,5 cm Inv.-Nr. H2 21/78 Provenienz: 1765 aus dem Nachlass des Grafen Heinrich von Brühl erworben Literatur: Toledano 1987, 150f.; Martin Raumschüssel in Berlin 1995, 157f., Kat.-Nr. 13; Arnold Nesselrath in Rom 2006, 124f., Kat.-Nr. 10; Luke Syson in London 2007, 197f., Kat.-Nr. 47 Der Dresdner »Schlangenbändiger« ist eine der außergewöhn- lichsten plastischen Schöpfungen der italienischen Renaissance. Dargestellt ist ein völlig nackter athletischer Mann mittleren Alters, der in seiner erhobenen linken Hand eine sich um seinen Arm ringelnde Schlange hält, deren nicht mehr erhal- tenen Kopf er angespannt anblickt. In seiner rechten Hand hielt er einen mittlerweile verlorenen Gegenstand. Wer mit der Figur gemeint sein könnte, ist ebenso rätselhaft wie ihr Ver- wendungszweck, und auch ihr Schöpfer ist nicht bekannt. Am überzeugendsten scheint die Zuschreibung an den sienesischen Künstler Francesco di Giorgio Martini,1 der als Architekt, Bild- hauer, Maler, Ingenieur, Illuminator und Medailleur tätig war. Er arbeitete in Siena, Urbino, Mailand und Neapel, verfasste unter anderem zwei Architekturtraktate und stand in Kontakt mit Leonardo und Bramante.2 Die Dresdner Plastik wird meist mit den zwei großen Leuchterengeln aus Bronze, die Martini um 1490 für den Sieneser Dom schuf, verglichen, die allerdings sehr viel feiner ausgeführt sind. Der »Schlangenbändiger« ist gröber und weniger detailliert, was aber hauptsächlich mit der Kaltarbeit zusammenhängt und wohl beabsichtigt war, verleiht ihm dies doch eine geradezu vibrierende Lebendigkeit. Bei dem Auftrag für den Sieneser Dom wurde Martini durch seinen langjährigen Mitarbeiter, den Bildhauer und Gießer Giacomo Cozzarelli (1453–1515), unterstützt, weshalb es durchaus vorstellbar ist, dass dieser ihm auch bei der Dresdner Figur assistierte. Der eindrucksvolle Kopf des nackten Mannes lässt sich jedenfalls eher mit gesicherten Arbeiten Cozzarellis (Abb. 29) als mit solchen von Martini vergleichen. Stilistisch sind beide Künstler der lokalen Schule eines Vecchietta, bei dem Martini wahrscheinlich sogar ausgebildet wurde, ver- pflichtet. Einflüsse von Donatello, Verrocchio und Pollaiuolo sind ebenso spürbar, wobei sich vor allem Letzterer immer wieder mit dem männlichen Akt in Aktion beschäftigte und genau wie der Schöpfer des »Schlangenbändigers« Expressivität wichtiger fand als Antikenstudium. In Bezug auf die Dresdner Figur wurde dennoch mitunter festgestellt, dass sich ihr bewegtes Schrittmotiv vom Apollo Belvedere herleiten lasse, was möglich sein mag, sich aber schwer verifizieren lässt. Insgesamt sind die Modellierung der Muskulatur und die Proportionen völlig unklassisch, ebenso wie die üppige Schambehaarung. Auch der ausdrucksstarke Kopf lässt sich nicht von antiken Vorbildern ableiten. Bislang hat sich noch keine Interpretation der Dresdner Skulptur durchsetzen können. Es scheint nur klar zu sein, dass es sich nicht um eine christliche Figur, sondern um eine aus der antiken Mythologie handeln dürfte. So wurde etwa vorge- schlagen, die Figur stelle Herkules im Kampf mit Achelous dar, einem Flussgott, der seine Gestalt ändern konnte und sich in eine Schlange verwandelt hatte, als er dem Helden gegenüber- trat.3 Man könnte sich ebenso vorstellen, dass der stets sieg­ reiche Tugendheld in einem rein allegorischen Sinn mit einer Schlange als Symbol des Bösen ringt.4 Gegen diese These spricht, dass der Kopf der Dresdner Plastik mit den langen Haaren nicht recht zu Herkules passt. Wie sich Martini den griechischen Heros vorgestellt hat, sieht man in seinen Minia­ turen im Codex De Animalibus (Siena, Museo Aurelio Castelli), und dort ist seine Physiognomie eine deutlich andere.5 Es wurde zudem versucht, die Figur als Äskulap zu deuten, wobei es jedoch merkwürdig ist, dass der Mann mit der Schlange, die ihm eigentlich dienen sollte, zu kämpfen scheint. Schließlich wurde gemeint, es handle sich um eine Darstellung des troja- nischen Priesters Laokoon.6 Wie dieser auszusehen hat, leitet sich in erster Linie von der 1506 in Rom ausgegrabenen antiken Gruppe (Rom, Vatikanische Museen) ab, bei der der Priester mit seinen beiden Söhnen von zwei großen und sehr langen Schlangen attackiert wird (vgl. Kat.-Nr. 21), so wie es Vergil berichtete ( Aeneis , 2, 200–225). Dass sich ein Künstler vor diesem Fund Laokoon anders vorgestellt haben mag, ist jedoch ein durchaus interessanter Gedanke. So könnte der verlorene Gegenstand in der rechten Hand der Dresdner Figur eine zweite Schlange gewesen sein, während sich Beispiele für kleine Reptilien in der Buchmalerei des Quattrocento finden lassen. Auch könnte das Band, das die langen Haare der Dresd- ner Figur zusammenhält, als Priesterbinde gedeutet werden.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1