Leseprobe

20 während sich die jüngste Schwester aus dem Fenster gestürzt haben soll, wobei sie sich beide Beine brach.15 Systematisch baute Ismael Mengs die Karriere von Anton Raphael auf, der seinen ersten Unterricht bereits als Sechsjähriger in der väter­ lichen Werkstatt erhalten haben soll. Der Inhalt der beiden ersten Lehrjahre ist uns durch den frühen Biografen und Freund von Mengs in Rom, den spanischen Diplomaten und Mäzen José Nicolás de Azara überliefert: Am Anfang stand das Freihandzeichnen, worunter primär das Ziehen von geraden oder geschwungenen Linien zu verstehen ist, gefolgt vom Zeichnen geometrischer Körper. Schließlich war die mensch­ liche Gestalt im Umriss festzuhalten und im nächsten Schritt der Körper geometrisch zu umzeichnen. Danach kam das Schattieren, wodurch die gezeichnete Figur Volumen und Plas­ tizität erhielt. Erst am Ende der zwei Jahre kamen Versuche in der Ölmalerei hinzu.16 Dies geschah alles, wie es auch an den Kunstakademien üblich war, zumindest am Anfang anhand von Zeichnungen und Stichvorlagen, die vom Vater vorgelegt wurden und Anton Raphael kopieren musste. Es ist zu ver­ muten, dass er gegen Ende der beiden von Azara überlieferten Studienjahre außerdem nach Gipsabgüssen antiker Skulpturen zeichnete. Die Vorlagen bildeten verkleinerte Kopien von Sta­ tuen, die der Vater von seiner Italienreise 1718/19 mitgebracht haben könnte, oder originalgroße Teilabgüsse, zumeist von Köpfen, die besonders zahlreich auch in Anton Raphaels Abgusssammlung erhalten sind (Abb. 79–82, Kat. 25). Üb­ licherweise wurde dabei im Schein einer Lampe oder Kerze gezeichnet, um das Spiel von Licht und Schatten und das Modellieren mit Hell-Dunkel-Nuancen zu üben. Wenig wahr­ scheinlich ist hingegen, dass Anton Raphael bereits in jungen Jahren nach lebenden Modellen zeichnete, was zumeist in den Abendstunden und ebenfalls im Schein einer Lampe geschah. Das Modellzeichnen bildete den krönenden Abschluss einer akademischen Künstlerausbildung. Doch mussten Modelle bezahlt werden und dürften Ismael Mengs zu teuer gewesen sein. Perspektive und Anatomie lernte Anton Raphael aus Büchern. Auch die Schwestern Therese Concordia und Julia Charlotte erhielten Unterricht vom Vater, jedoch weit weniger intensiv. Sie sollten lediglich die Porträtmalerei in Miniatur beherrschen, was als »angemessen« für Frauen galt und worin es vor allem Therese Concordia zu einigem Ansehen brachte. Die Ölmalerei, zumal die prestigeträchtige großformatige Historienmalerei, war hingegen Männerdomäne. Frauen blieb da zumeist nur das Porträt- und Blumenfach. Anton Raphael machte rasch Fortschritte, wie sein Selbst­ bildnis von 1740 zeigt (Abb. 9). In Dresden konnte er zu dieser Zeit nichts mehr lernen, sodass der Vater die Erlaubnis von König August III. von Polen (als Kurfürst August II. von Sach­ sen) erwirkte, zur weiteren Ausbildung seiner drei jüngeren Kinder nach Rom reisen zu dürfen. Der Eindruck der Stadt auf Anton Raphael und seine Schwestern muss überwältigend gewesen sein. Hier gab es das, was Dresden noch nicht hatte: die über alles geschätzte Malerei eines Raffael, Correggio, Guido Reni, der Brüder Carracci und anderer Meister des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Familie bezog eine Wohnung im Palazzo dei Penitenzieri am Borgo Santo Spirito in der Nähe des Petersdoms. Abb. 10 Anton Raphael Mengs: Selbstbildnis , 1744/45 Pastell auf Papier, 55×42 cm Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. P 167 Abb. 9 Anton Raphael Mengs: Selbstbildnis mit zwölf Jahren , 1740 Rote und schwarze Kreide, Reste von Weißhöhung, 26,1×19,8 cm Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 2464

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