Leseprobe

79 9 Torso vom Belvedere Gips; Höhe mit Plinthe 111,5 cm Original: 1. Jh. v. Chr., von Apollonios aus Athen; Rom, Vatikanische Museen, Inv.-Nr. 1192 Inv.-Nr. ASN 4717 »Vielleicht nichts als einen verunstalteten Stein« werde der Besucher beim ersten Anblick im Torso vom Belvedere sehen. – Es fehlten Kopf, Arme, Beine und ein Teil der Brust Den­ noch, so Winckelmann in seiner Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom von 1759 weiter, sei die Statue »ein Wunder« der Kunst. Dieses »Wunder« sollte der Legende nach Michel­ angelo im Auftrag von Papst Julius II. ergänzen. Doch der Künstler weigerte sich, und der Torso vom Belvedere blieb die einzige bedeutende antike Statue, die nicht ergänzt wurde und immer nur als Fragment ausgestellt war, sieht man einmal von den ersten Jahrzehnten nach ihrer Entdeckung ab. Doch auch hier bleibt die Frage: Wurde sie wirklich um Beine und die Brustpartie ergänzt, wie sie der Stich von Giovanni Antonio da Brescia vom Anfang des 16. Jahrhunderts zeigt (London, British Museum), oder liegt hier nicht vielmehr die »Rekon­ struktion« eines Zeichners vor? Letzteres kommt der Wahrheit sicher am nächsten. Wann und wo genau der Torso vom Belvedere gefunden wurde, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich war es auf dem Grundbesitz des römischen Adelsgeschlechts Colonna. Zumindest wird der Torso Anfang der 1430er Jahre im Besitz eines Kardinals aus der Familie genannt. Später scheint der Torso dann verkauft worden zu sein und gelangte wohl nach mehrfachem Besitzerwechsel in den 1530er Jahren in die päpst­ lichen Kunstsammlungen. Wie der Apoll vom Belvedere (Kat. 1) und der Laokoon wurde auch der Torso im Belvedere-Hof des Vatikan aufgestellt, wo er für Jahrhunderte fester Bestandteil im Besuchsprogramm eines jeden Rom-Reisenden war und ihn unzählige Maler und Bildhauer zeichneten. Doch wer ist eigentlich in dem sitzenden nackten Mann dargestellt, dessen Armhaltung nicht rekonstruiert werden kann und von dem letztlich nicht einmal zu entscheiden ist, ob er auf- oder niederblickt? Einen Hinweis gibt das Fell, das über den Felsen gebreitet ist. Sollte es der Kopf eines Löwen oder eines Panthers sein, der auf dem linken Oberschenkel des Mannes liegt, dann müsste es sich bei ihm um Herakles (Her­ kules) oder um einen Satyr (Faun), möglicherweise um Mar­ syas kurz vor seiner Häutung, handeln (Kat. 5). Für Letzteres würde das Bohrloch am Rücken der Figur sprechen, in das der Schwanz des Satyrs eingedübelt gewesen sein könnte. Doch ist die Bohrung wirklich antik, wie einige Forscher behaupten, und nicht vielmehr neuzeitlich, wofür etwa die anfängliche Präsentation des Torso als Liegefigur sprechen würde? Und ist nicht vielleicht doch ein Held aus dem Trojanischen Krieg dargestellt, Philoktet etwa, der, nachdem er von einer Schlange gebissen wurde, von den Griechen auf einer Insel zurück­ gelassen wurde, als sie seine Schreie und den Gestank seiner Wunde nicht mehr ertragen konnten, oder Ajax, kurz vor Abb. 51 Michelangelo Der heilige Bartholomäus (Detail aus dem Jüngsten Gericht ), um 1535–1541 Fresko; 13,7×12,2 m Vatikan, Sixtinische Kapelle

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