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94 Es wundert also nicht, dass bei der Auffindung der Statue wohl um 1540 in einem Garten in der Nähe der Engelsburg weder an Hermes noch an einen anderen Gott gedacht wurde. Wie bei so vielen »anonymen« Statuen schöner junger Männer kam für die Zeitgenossen nur ein Name infrage, der des tragisch zu Tode gekommenen und danach vergöttlichten Geliebten Kaiser Hadrians, Antinoos (Antinous) (Abb. 62). 1545 erwarb Papst Paul III. Farnese die Statue und ließ sie im Belvedere-Hof des Vatikans aufstellen, wo sie als Antinoos vom Belvedere rasch zu einer der berühmtesten Antiken Roms wurde. Bereits zu dieser Zeit wurde die Statue für Franz I. von Frankreich abgeformt. Im 17. Jahrhundert entstand für Karl I. von Eng land ein Bronzeabguss, Philipp IV. von Spanien wünschte und erhielt eine Büste, Ludwig XIV. wiederum ließ für Versailles Wiederholungen in Marmor und Bronze herstellen. Künstler wie Gianlorenzo Bernini und Nicolas Poussin, ja selbst Wil liam Hogarth in London, der die Statue nur aus Kupferstichen und Gipsabgüssen kannte, sahen im Antinoos vom Belvedere das Ideal des menschlichen Körpers verwirklicht. Doch wie verhielt es sich mit dem Namen, der untrennbar mit der Statue verbunden schien? Einer der ersten, der Zweifel äußerte, war Winckelmann. Hatte er die Statue vor seiner Ankunft in Rom noch in höchsten Tönen gelobt, so relativierte er sein Urteil angesichts des Marmororiginals, kritisierte die Gestaltung ein zelner Körperteile, attestierte der Figur einen süßlichen Aus druck und stellte sie der »göttlichen Majestät« des Apoll vom Belvedere gegenüber. Halbherzig brachte er für die Statue zudem einen neuen Namen ins Spiel, den des mythischen Jägers Meleager. Winckelmanns Vorschlag wurde kaum beachtet und von ihm auch nicht weiter verfolgt. Es fehlte schlichtweg an Bewei sen, und zu populär war der Name des Geliebten Kaiser Had rians, als dass man ohne triftigen Grund von ihm lassen wollte. Auch Mengs’ Anregung, der in der Statue einen bartlosen Herakles (Herkules) erkennen wollte – andere wiederum sahen in ihr den jugendlichen Athener Held Theseus –, wirkt aus heutiger Sicht eher hilflos, zeigt aber, wie aktuell »Antike« war und wie intensiv die Diskussion in römischen Gelehrten- und Künstlerkreisen geführt wurde. Wesentlich mehr Beachtung fand hingegen die These, die der führende römische Archäo loge Ennio Quirino Visconti um 1800 aufstellte: Die von ihm ebenfalls hochgeschätzte Statue stelle Hermes dar. Neu war Viscontis Ansicht nicht. Bereits der Altertumsforscher Philipp von Stosch hatte Hermes für die Statue in Anspruch genom men, was von Winckelmann, in seiner Zeit unangefochtene Autorität in allen Fragen der Archäologie, strikt abgelehnt wurde. Doch anders als seine Vorgänger war Visconti nicht auf Spekulationen angewiesen. Er konnte seine These mit stich haltigen Fakten untermauern. Diese bestanden in einer Statue, die mindestens genauso lange wie der Antinoos vom Belvedere bekannt war und sich im Besitz der römischen Adelsfamilie Farnese befand. Sie zeigt den gleichen jungen Mann, doch mit geflügelten Schuhen und dem ebenfalls geflügelten, von zwei Schlangen umwundenen Heroldsstab (Caduceus) des Hermes. Doch damit nicht genug: Visconti waren weitere Wiederho lungen bekannt, aber welche war die künstlerisch wertvollste, kam dem verlorenen Bronzeoriginal vermutlich am nächsten? Die Entscheidung fiel zunächst zugunsten der Farnese-Fassung, bis eine weitere, 1832 auf der Kykladen-Insel Andros gefundene Abb. 61 Kaiser Hadrian Gips; Höhe mit Sockel 77 cm Original: 125/130 n. Chr.; London, British Museum, Inv.-Nr. 1897 Inv.-Nr. ASN 2523
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