Leseprobe

105 Schläfen in voluminösen Locken hervor. Zeichen seiner Blind­ heit sind die tief heruntergezogenen Augenlider und die schmalen Augäpfel. Eingefallene Wangen und Furchen, die von den Nasenflügeln bis zur Kinnpartie verlaufen, deuten zudem auf hohes Alter. So realistisch und lebensnah, wie die Büste scheint – sah Homer wirklich so aus? Mit Sicherheit nicht. Aus dem einfachen Grund, dass in der Zeit, in der Homer vermutlich lebte, das Porträt bzw. das, was wir heute darunter verstehen – die Darstellung einer Person in ihrer unverwechselbaren Individualität –, schlichtweg unbekannt war. Sie ist somit Fiktion, wie auch Homers Blindheit, die ihm bereits in der Antike nachgesagt wurde (für die es aber schon damals keinen Beweis gab). Dargestellt ist vielmehr ein alter Mann, wie er um 200 v. Chr. gelebt haben könnte. 17 Bildnis des Homer Gips; Höhe mit Sockel 68,5 cm Original: 2. Jh. n. Chr. nach einem Vorbild von ca. 200 v. Chr.; Rom, Kapitolinische Museen, Inv.-Nr. 557 Inv.-Nr. ASN 4718 Gab es ihn wirklich, Homer, den Dichter der Ilias und der Odyssee , oder ist seine Person Fiktion? Wann und wo lebte er? Und stammen Ilias und Odyssee , die bereits in der Antike berühmten und häufig rezipierten Epen, wirklich aus einer Feder, oder sind sie nicht doch von mehreren Autoren verfasst oder auf Grundlage mündlicher Überlieferung niedergeschrie­ ben worden, wie es auch die Gebrüder Grimm mit ihren Mär­ chensammlungen taten? Fragen, die letztlich nicht eindeutig zu beantworten sind. Sprachgeschichtliche Untersuchungen legen jedoch nahe, dass Ilias und Odyssee im späten 8. oder frühen 7. Jahrhundert v. Chr. in Ionien an der Küste von Kleinasien (heute Türkei) entstanden, und stilistische Analysen lassen es zumindest möglich erscheinen, dass die Epen einen gemeinsamen Verfasser haben. In diesem Fall wäre die Ilias als Früh- und die Odyssee als Spätwerk anzusehen. Von den Texten bestanden bereits in der Antike mehrere Fassungen, die erst im Hellenismus, also Jahrhunderte nach ihrer Entstehung, redigiert und in der bis heute üblichen Form in Gesänge eingeteilt wurden. Ebenfalls in der Epoche des Hellenismus, um 200 v. Chr., entstand die vorliegende Homer- Büste, die in keiner Gipsabgusssammlung und in keiner Bib­ liothek des 18. und 19. Jahrhunderts fehlen durfte. Wie kein anderes Dichter- oder Philosophenbildnis illustrierte sie den Anspruch des Besitzers auf klassische Gelehrsamkeit und Bil­ dung. Ohne Frage war sie daher auch in Anton von Marons repräsentatives Winckelmann-Bildnis aufzunehmen, das Mengs’ zeitweisen Hausgenossen und Nachbarn im luxuriösen roten Hausmantel bei der Arbeit zeigt (Abb. 69). Wie sein Alter Ego, sein »zweites Selbst«, steht die Büste rechts hinter Winckelmann. Vor ihm liegt ein Stich des berühmten Anti­ noos-Reliefs aus der Villa Albani. Homer ist in seiner Büste mit dichtem Vollbart und vollem Haupthaar, das von einem Riemen am Kopf gehalten wird, dargestellt. Ohne die Ohren zu bedecken, quillt es an den Abb. 69 Anton von Maron Johann JoachimWinckelmann , 1768 Öl auf Leinwand; 136×99 cm Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv.-Nr. G 70

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