Leseprobe

106 Von Ausnahmen abgesehen, entwickelte sich das Porträt im heutigen Sinne erst in der Spätklassik und im Hellenismus, also in einer Zeit, in der auch die Homer-Büste entstand. »Individuelle« Züge weisen etwa die Bildnisse von Sokrates – hohe Stirn bzw. Glatze, breites, fast satyrhaftes Gesicht – und von Alexander dem Großen auf (Abb. 70, 71). Letzteres ist nicht frei von Stilisierung, wobei hier besonders auf das über der Stirn aufrecht stehende Haar, die Anastole oder auch Alexanderlocke, hingewiesen sei, das quasi zum »Erkennung­ zeichen« für den Herrscher wurde und sich an den meisten seiner Bildnisse wiederfindet. Mit dem Alexander-Bildnis war ein Bann gebrochen. Seine Nachfolger, die Diadochen, folgten seinem Vorbild und ließen sich ebenfalls mit wiedererkennba­ ren Zügen, gelegentlich auch unter Einbeziehung der Alexan­ derlocke als Hinweis auf Herkunft oder Herrschaftsanspruch, darstellen. Aus der hellenistischen Kunst, aber ebenso heimi­ schen Traditionen speiste sich das römisch-republikanische Abb. 70  Bildnis des Sokrates Gips; Höhe mit Sockel 41,5 cm Original: Mitte 1. Jh. v. Chr., nach einem Vorbild aus der 1. Hälfte 4. Jh. v. Chr.; Neapel, Archäologisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. 6129 Inv.-Nr. ASN 3907 Abb. 71  Alexander der Große als Helios Gips; Höhe mit Sockel 71,5 cm Original: 2. Jh. n. Chr., nach einem Vorbild von ca. 200 v. Chr.; Rom, Kapitolinische Museen, Inv.-Nr. 732 Inv.-Nr. ASN 4724 Porträt des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. Hier war der Ahnen­ kult eine maßgebliche Triebfeder. Zum Andenken stellten die wohlhabenden und einflussreichen Familien Roms Büsten der Verstorbenen in ihren Gräbern auf, die die individuellen Züge der Verstorbenen unter Betonung des Alters wiedergaben. Diese Art der Darstellung war wie die Familien politisch mit der römischen Republik verbunden und demzufolge in der frühen Kaiserzeit wenig gefragt. An seine Stelle trat die (erneute) Idealisierung des Herrscherbildes unter Kaiser Augustus (Kat. 25).

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