Leseprobe

122 Unsterblichkeit zu nehmen, damit er seinem Bruder in das Totenreich folgen könne. Zeus stellte Polydeukes vor die Wahl, ewig jung zu bleiben und unter die Götter aufgenommen zu werden oder mit Kastor jeweils einen Tag im Totenreich und einen im Olymp zu leben und dabei wie die Menschen zu altern und zu sterben. Polydeukes entschied sich für seinen Bruder. Durch die Deutung als Kastor und Polydeukes konnte die Ildefonso-Gruppe im 19. Jahrhundert zum Freundschaftsbild par excellence werden. Goethe befasste sich intensiv mit ihr und dürfte einer der ersten gewesen sein, der die Gruppe expli­ zit als eklektisches, ein »aus etwas Vorhandenem zusammen­ gestelltes« Werk betrachtete. Im Einklang mit Johann Hein­ rich Meyer führte er den Jüngling rechts auf Polyklets berühm­ ten Doryphoros (griech. »Speerträger«) aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zurück. Den Jüngling links sprach Meyer dann in seiner Antwort an Goethe als »eine der schönsten Wiederholungen des Apollo Sauroktonos [griech. Echsentöter] in Marmor« an, eine Statue des Praxiteles aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. (Brief Goethes an Meyer vom 12. November 1812 und Meyers Ant­ wort vom folgenden Tag). Goethes Wertschätzung für die Gruppe tat dies jedoch keinen Abbruch. Vielmehr das Gegenteil war der Fall. Ein bronzefarbener Gipsabguss steht bis heute in der Vorhalle seines Wohnhauses am Frauenplan, und ein Eisenguss wurde 1824 nicht weit entfernt am Burgplatz in Weimar aufgestellt. 1827 heiratete Prinz Karl von Preußen Marie von Sachsen-Weimar-Eisenach. Im folgenden Jahr fand die Gruppe im Gartenhof von Schloss Glienicke, dem Sommersitz des Paares bei Potsdam, Aufstellung. Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.) tat es seinem Bruder gleich, und seit 1839 wachen Kastor und Polydeukes über den Dichterhain beim Schloss Charlottenhof im Park von Sanssouci. Doch neben den zahllosen Wieder­ holungen setzten sich Künstler mit der Ildefonso-Gruppe auch kreativ auseinander. Einer der ersten war der Berliner Bild­ hauer Johann Gottfried Schadow. Arm in Arm, in geschwister­ licher Verbundenheit, stellte er die preußische Kronprinzessin und spätere Königin Luise und deren Schwester Friederike dar (Abb. 77). Kopfhaltung, Arm- und Beinstellung sind gegen­ über der Ildefonso-Gruppe variiert, doch die Abhängigkeit vom Vorbild ist unverkennbar. Das Gleiche gilt für das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar, zu dem Schadows Schüler Chris­ tan Daniel Rauch 1849 den Auftrag erhielt. Bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor war postuliert worden, dass »das innigste Verhältniß zwischen Schiller und Göthe « nur »mit dem engen Verbande zwischen Kastor und Polydeukes« zu vergleichen sei ( Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen , Nr. 58, 28. Februar 1835, Sp. 758, Hervorhebungen im Original). Dieses Hinweises bedurfte es für Rauch nicht, ebenso wenig für seinen Schüler und Freund, den Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel, an den er seinen Auftrag zum Goethe-Schiller-Denkmal weitergab (Abb. 78). Beide Bildhauer zeigen die Wei­ marer »Geistesheroen« im Einklang, jedoch ist ein Anlehnen nur mehr angedeutet, wodurch die geistige Unabhängigkeit der Dichter stärker hervortritt. Selbiges gilt für den Blick, der weder gesenkt ist, noch sich auf eine vergleichbare gemeinsam vollzogene Handlung wie das Altaropfer von Kastor und Poly­ deukes bezieht. Die Dichter richten ihren Blick vielmehr in visionäre Ferne, Goethe fest und geradeaus, der früh verstor­ bene Schiller dagegen weltabgewandt, leicht nach oben. Wesentliche Unterschiede bestehen in der Beantwortung der »Kostümfrage«, um die seit dem späten 18. Jahrhundert gerun­ gen wurde und die Rietschel für sich entscheiden konnte. Rauch folgte dem »alten« Modell, kleidete seine Dichter (wie Schadow seine Prinzessinnen) ahistorisch in antikisierende Gewänder als Synonym für »Überzeitlichkeit« der Dargestell­ ten und ihrer Werke. Rietschel hingegen zeigte Goethe und Schiller in Kniehose, Hemd, Weste und Mantel und damit in den Augen der Antikenbefürworter nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in ihrer »historischen Bedingtheit«. Abb. 78 Ernst Rietschel Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar Reduktion des Gussmodells, 1857 Gips; Höhe 57 cm Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung, Inv.-Nr. ASN 649

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