Leseprobe

23 Ich zeichne, um mich kennenzulernen. Auch der sogenannte normale Mensch weiß vom Anderen nur etwas, teils will er nicht alles erkennen, teils kann er es gar nicht. »Nichts Gewisses, das uns mit uns verbindet, Wir sind, wer wir sind, und was Wir waren, ist etwas von innen Geschautes.« (Fernando Pessoa) Ich lese die großen Verneiner gegen die Täuschung. Aber wir freuen uns am Sonnenstrahl, am Regen, an dem grünen Blatt und dem Herbstblatt und an dem Geäst, das wie unsere Adern oder Knochen. Einfach sein ist nicht leicht. Aber das ist es. – In der Kunst bin ich jetzt immer an der Komposition interessiert. Ein abstrakter Maler mit Tiefe ist Caspar David Friedrich. Er unterscheidet sich von ähnlichen Motivmalern (Carl Gustav Carus) eben durch das Konstrukt in Gleichzeitigkeit mit dem Anliegen. Der Mönch am Meer eine einsame Senkrechte. Musik und Literatur spielen ebenfalls eine Rolle. Ich will darauf hinführen, dass die Kunst gültig wird bei vollkommener Identität des Machers mit der Sache. Geforderte Gefälligkeiten von außen können nur stören. Selbst bin ich bei den Tuschen gelandet. Das Zeichenhafte ist jetzt gegeben. Neben Affekten ist das Viereck im Unterschied zur reinen Kalligrafie zu gestalten. In dieser Hinsicht gibt es in einigen Fällen Konstruktives mit Hilfe des Goldenen Schnitts. Er liegt manchmal darunter, wird angespielt und in Improvisationen übergan- gen. Dies verhilft zu einer – vielleicht eingebildeten – Festigkeit! Wer glaubt, dass der Goldene Schnitt veraltet ist, irrt sich. Jeder Laienfotograf setzt oft die Figur oder den Baum in der Landschaft an die richtige Drittelstelle. Die asiatischen Momente sind vielleicht dennoch da. Der Weißwert, der Schwarzwert auf der Fläche müssen balanciert werden. Der Akt dieses Vorgangs: Das weiße Blatt liegt vor mir, drei Gläser, Tusche, Wasser, Halbtöne. Der Angriff: drei Pinsel oder nur einer für die verschiedenen erstrebten Stärken; Denken zur Hälfte aussetzen. Teils gibt es einen Plan – meist ist die Selbstüberraschung gewünscht. Es gibt »die Poesie des Plötzlichen«. Den Akt des Tuns und das Zeichen in Einem. Alle frühen Erfahrungen wirken mit. Es braucht für die genannten Affekte eine vorausgehende Konzentration, die man nicht vor Zeugen finden kann. DI ETER GOLTZSCHE Zu den späten Tuschen Vier Kugeln · 2017 Pinsel, Tusche, Ölkreide, Farbstift auf Zeichenpapier 29×49 cm

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