Leseprobe
50 Raskolnikoff , das Gemälde (1925) Ein krakeliger Titelschriftzug von Scherers Hand nebst Signatur läuft mitten durchs Gesicht des Mannes auf der wahrscheinlich verworfenen Rückseite des doppelseitigen Gemäldes Raskolnikoff. 6 Es ist ein Ver- weis auf das auf der Vorderseite zu sehende Bild, das eine Szene nach Motiven aus Dostojewskijs Roman Verbrechen und Strafe zeigt, in dem Raskolnikow der Hauptprotagonist ist. In fast radioaktiver Grellheit, fast neonfarbig, giftschön, etwas unwirklich und furios leuchtet das mar- kante Grün, das Gemälde dominierend. Es macht im Wesentlichen die Kraft dieses Bildes aus, das auch ansonsten schon – wie viele Gemälde Scherers – ein subkutanes Licht zu besitzen scheint. Aus einem dunk- len,wenig definierten,bläulich-roten Hintergrund treten zwei Personen als Halbfiguren hervor: ein Mann und eine Frau mit hängenden Schul- tern, irgendwie befangen,emotional bewegt,einander zugewandt, sich aber nicht anblickend, über ein Buch gebeugt. In dieser sehr span- nungsreich angelegten Situation verdichtet sich eine intime Erzählung von Schuld und Liebe und deswegen Sühne. Die Dargestellten sind nämlich das Liebespaar Rodion Raskolnikow, ein zweifacher Mörder »aus Not«, und Sonja Marmeladowa, die ebenfalls »aus Not« »den Reichtum ihres Herzens verschleudern [...] und vor die Hunde werfen« 7 , also sich prostituieren musste. Das Paar auf dem Bild strahlt eine unbändige bildhauerische Energie aus. Geradezu wie aus Holz gehauen wirken die versteiften Figuren in ihrer auffälligen Kantigkeit. Sie scheinen auch nicht weniger aus einem Stamm entstanden zu sein als Scherers Adam und Eva (1925, Abb. 4 u.S. 82) nach Art siamesischer Zwillinge aus einem Lärchenbaum stammen. Die Physiognomien sind gleichermaßen vereinfacht. Die Gesichtszüge sind grob, aber scharf geschnitten, die Gesichtsaus drücke ernst und irgendwie bedeutungsvoll. Sonja blickt mit wachen und weit aufgerissenen Augen, Rodion stiert leidvoll vor sich hin. Alles ist auf das Wesentliche reduziert und konzentriert: die psycholo- gische Situation. Die hier dargestellte Szene findet man im vierten Teil von Ver- brechen und Strafe. Es ist die berühmte, von Vladimir Nabokov (1899– 1977) später aufs Gemeinste verspottete Szene, in der ein Mörder und eine Prostituierte gemeinsam »das ewige Buch« lesen. 8 Das offene Buch,über das sich das Paar im Gemälde beugt, ist das Neue Testament. Sonja liest Rodion aus dem 11.Kapitel des Johannes-Evangeliums vor. Darin handelt es sich um die Auferweckung eines Toten, also um die Geschichte des Lazarus und seine Auferstehung zu einem neuen Men- schen. »Raskolnikow saß reglos und hörte zu, ohne sich ihr [Sonja] zuzuwenden, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und sah zur Seite, so kamen sie zum zweiunddreißigsten Vers«, 9 heißt es im Roman. Sche- rers Gemälde thematisiert diesen psychologisch sehr komplexen und bewegten Moment, in dem sich auch eine sehr wichtige Wandlung in Raskolnikows Innerstem vollzieht: Während ihm seine Vorleserin vor- liest, entscheidet sich Rodion für ein Eingeständnis seiner Schuld und für ein »neues Leben«, das nur über ein Geständnis und die darauf fol- gende Strafe erlangt werden kann: »Inzwischen zitterte sie [Sonja] am ganzen Körper wie in einem wirklichen, richtigen Fieberanfall. […] Sie näherte sich jetzt dem Raskolnikoff , the Painting (1925) A title scrawled in Scherer’s handwriting next to his signature traverses the man’s face on the – presumably rejected – rear side of the double-sided canvas Raskolnikoff. 6 It refers to the painting on the front, which depicts a scene based on motifs from Dostoyevsky’s novel Crime and Punishment , in which Raskolnikov is the main protagonist. Dominating the painting, the strident green tone emits a radiance that seems almost radioactive in its brilliance, almost fluorescent and at once toxically beautiful, somewhat unreal and passionate. It essentially constitutes the power of this painting, which, like many of Scherer’s canvasses, seems to be endowed with a subcutaneous light. Two figures emerge out of a murky, undefined, bluish-red background: a man and a woman with drooping shoulders, somehow self-contained, emotionally agitated, side by side, their eyes disengaged from one another, heads bent over a book. An intimate narrative of guilt and love, and therefore atonement – coalesces in this tense mise en sc è ne . The persons depicted are the lovers Rodion Raskolnikov, a double murderer " out of necessity”, and Sonya Marmeladova, who likewise " out of necessity”, had to " squander the riches of her heart [...] and throw them to the dogs”, 7 that is to say, prostitute herself. The two figures in the painting radiate an irrepressible sculptural energy. As though carved out of wood, the rigid figures have a striking angularity. They also seem to have been hewn from a single tree trunk every bit as much as the figures in Scherer’s wood sculpture, Adam und Eva (1925, fig. 4 and p. 82), which, like a pair of Siamese twins, were carved from a single trunk of a larch tree. Their physiognomies are similarly simplified. The features are coarse but sharp, the facial expressions serious and somehow porten- tous. Sonya is looking up, her eyes alert and wide open. Rodion is staring sorrowfully straight ahead. Everything has been reduced to the essentials, concentrating on the psychological situation. The scene depicted here takes place in the fourth part of Crime and Punishment . It is the famous scene, subsequently derided by Vladimir Nabokov (1899–1977), in which a murderer and a prostitute read " the eternal book” together. 8 The open book is the New Testament. Sonya is reading from the eleventh
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