Leseprobe

51 Wort des größten und unerhörtesten Wunders, und ein Frohlocken erfüllte sie. Ihre Stimme klang hell wie Metall; Triumph und Jubel schwangen darin und verliehen ihr Kraft.Die Zeilen vor ihr hüpften,denn es wurde ihr dunkel vor Augen, aber die Stelle, die sie las, kannte sie auswendig. Beim letzten Vers, ›konnte, der dem Blinden die Augen auf- getan hat‹, senkte sie die Stimme, um leidenschaftlich, mit Feuer den Zweifel, Vorwurf und Tadel der blinden, ungläubigen Juden auszudrü- cken,die gleich,eine Minute später,wie vom Blitz getroffen niederknien, schluchzen und glauben werden …›und er,er – ebenso blind und ebenso ungläubig –, er wird es ebenso hören, und er wird ebenso glauben, ja, ja! Gleich, jetzt‹,das ersehnte sie und zitterte in freudiger Erwartung.« 10 Raskolnikow überkommt eine Vorahnung vom Ende seiner Leiden und eine Vorfreude auf einen Neuanfang. Seine Rettung, seine herbeigesehnte »Auferstehung« kommt über Sonja.Erst mit ihrer Unter- stützung kann er die Kraft aufbringen,sich der Polizei zu stellen.Danach in einer Sündersolidarität sagt er zu Sonja: »Wir sind beide verflucht, laß uns zusammen gehen!« 11 Und dann: »[...] wenn du allein bleibst, wirst du wahnsinnig werden, so wie ich.Du bist ja jetzt schon wie wahn- sinnig; wir gehören also zusammen und haben denselben Weg. Gehen wir!« 12 Und sie wird ihm später in die Katorga folgen – danach soll ihr gemeinsames Leben als »neue Menschen« beginnen. Auffällig in Scherers Raskolnikoff -Darstellung ist die krampf- hafte Umklammerung der kantigen Hände, die sich des Partners verge- wissern.Diesen ängstlichen Händedruck findet man ebenso in Scherers Holzskulptur Adam und Eva (Abb. 2 u. S. 82). Doch während es bei den ersten Menschen Scherers die Frau ist, die hinter dem Rücken ihres Partners Schutz sucht und die Behütete zu sein scheint, ist es bei Rodion Raskolnikow und Sonja Marmeladowa umgekehrt: Hilfesuchend scheint sich der Mann an der Frau festzuklammern, beklemmende Ahnungen vom Ausgeliefertsein zum Ausdruck bringend. Sonja und Rodion wirken ähnlich wie Adam und Eva nach dem Sündenfall: ausge- stoßen und auf sich gestellt. Der Händedruck steht bei beiden Paaren für den Zusammenhalt der Ausgestoßenen. Durch Sünde, den Verlust der Unschuld und die Sühne, die geleistet werden muss, ergibt sich eine Parallelität zwischen den Lie- bespaaren. Im Fall von Rodion und Sonja liegt der »Sündenfall« aber bei demMann.So wie Adam und Eva eine irdische »Katorga« erwartet,wird es für Rodion und Sonja eine sibirische Katorga 13 geben. Eine Errettung der Sünder ist durch die erlösende Kraft der Liebe möglich. Diese Ver- bindung ergibt sich nicht zuletzt durch das offene Buch im Bild: das Evangelium, also die »gute Botschaft«. Damit wird ein Bogen von den »ersten« zu den »neuen Menschen« gespannt. In Scherers Wahl aus- gerechnet dieser Szene mit Lazarus als Auferstehungsmetapher könnte man auch den Ausdruck der zeittypischen Sehnsucht nach Erlösung erkennen, den Wunsch einer krisenhaften Zeit nach einer neuen Welt, die sich aus dem Chaos erhebt, und nach einem »neuen Menschen«, der den alten ersetzt. chapter of the Gospel according to St John to Rodion. It tells the story of a dead man’s reawak- ening, that is to say, the story of Lazarus and his resurrection to become a new man. " Rastnol- nikov sat listening motionlessly without turning around, propping his elbow on the table and looking to one side. They reached verse thirty-two”, 9 as it says in the novel. Scherer’s painting addresses this psychologically highly-complex and emotional moment, as Raskolnikov has a major, transformative epiphany: as Sonya is reading to him, Rodion decides to come clean about his guilt and thus opt for a " new life” that can only be obtained via confession and subsequent punishment: " She was shaking all over in a real, genuine fever. He had been expecting this. She was approaching the description of the great and unprecedented miracle, and a sense of immense triumph had taken hold of her. Her voice had become as resonant as metal; triumph and joy sounded in it, giving it strength. The lines swam before her, for her eyes were growing dim, but she knew by heart what she was reading. At the verse she had just read – ‘ Could not this man which opened the eyes of the blind ...’ – lowering her voice, she ardently and pas- sionately conveyed the doubt, reproaches and abuse of the unbelievers, the unseeing Jews, who presently, in a moment, would fall as though struck by a thunderbolt, sobbing and attaining belief ... ‘ And he, he – also blinded and unbeliev- ing – he, too, will hear it in a moment, he too will come to believe, yes, yes! Now, this very minute,’ she thought in her dream and shook with joyful expectation.” 10 Abb. I Fig. 2   Hermann Scherer Adam und Eva , 1925 , Detail: Händedruck Lärchenholz Museum für Neue Kunst, Städtische Museen Freiburg

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1