Leseprobe
12 Was über das Verhältnis der beiden bekannt ist, wissen wir hauptsächlich von Kirchner, der sein eigenes Leben und Schaffen stets selbst genau reflektierte und sein eigenes Narrativ erfand: posthum durch Briefe und Tagebücher 9 und durch eigene zeitgenössische Texte wie den 1925 in Der Cicerone erschienenen Beitrag von Kirchners erfun- denem französischem Kunstkritiker-Alter-Ego Louis de Marsalle.Dieser Aufsatz, den Kirchner zunächst bei Will Grohmann angefragt hatte und dann doch selbst unter seinem Pseudonym schrieb, sollte Kirchner nicht nur den Vorrang in Bezug auf sein skulpturales Werk sichern, son- dern ihn auch als einen Künstler darstellen, der seine skulpturale Auf- fassung weitergibt, und ihn in diesem Sinne also als Lehrer dokumen- tieren. 10 Dass sich unser Wissen über das Verhältnis der beiden vor allem aus Kirchners Perspektive speist, liegt nicht nur daran,dass er der bekanntere Künstler ist und sein Werk demzufolge breiter rezipiert wurde, sondern auch daran,dass er zu Lebzeiten strategisch die eigene Rezeption mitdachte und massiv zu beeinflussen suchte. In Briefen, Tagebucheintragungen und eigenen Texten äußerte er sich über seine Weggefährten und hat so das Bild vom Schüler-Lehrer-Verhältnis als Erster entworfen und nachhaltig geprägt. 11 Auch in seinen Bildern thematisiert Kirchner die Freundschaft zu Scherer, Müller, Camenisch und anderen Künstlerkollegen und gibt dieser mitunter eine eindeu- tige Prägung: »Indem er Scherer als Bewunderer seines Werkes malt, stellt Kirchner das Lehrer-Schüler-Verhältnis unmissverständlich dar«. 12 Scherer dachte hinsichtlich der Rezeption seines Werkes sicherlich weniger taktisch. 13 Als Scherer an einer Sepsis als Folge einer nicht behandelten Streptokokkeninfektion starb,wurde er mitten aus seinem noch jungen Leben gerissen. Wegen seines unerwarteten und frühen Todes hinter- lässt er als Œuvre nur wenige Frühwerke und ebenjenes umfangreiche Konvolut, das nach der Begegnung mit Kirchner entstanden ist und das auch den Höhepunkt seines Schaffens darstellt. Es ist reine Spekula- tion, wie sich sein Werk weiterentwickelt hätte. Kirchner hingegen, nur 13 Jahre älter als Scherer, konnte bereits vor der Begegnung mit diesem auf ein umfangreiches Werk zurückblicken und hat Mitte der 1920er Jahre bis zu seinem Freitod 1938 weitere stilistische Entwicklungen voll- zogen.Diese Ausgangslage – der Alters- und der Erfahrungsunterschied, die längeren gemeinsamen Arbeitsaufenthalte sowie Selbstzeugnisse Kirchners 14 – hat dazu beigetragen, dass in der Kunstkritik sowie in der Kunstgeschichtsschreibung das Verhältnis der beiden Künstler einen eindeutigen Stempel trägt: den einer Lehrer-Schüler-Beziehung. 15 Um Scherers Werke in den Blick zu bekommen und sich mit seinen spezifischen Qualitäten beschäftigen, ist es durchaus produktiv, sie in Bezug zu Kirchners Werken zu setzen und zu befragen.Dies aller- dings nur innerhalb des Bezugsrahmens eines Lehrer-Schüler-Verhält- nisses zu tun,bedeutet,den früh verstorbenen Scherer auf einen Schü- ler in Abhängigkeit von Kirchner als Lehrer zu reduzieren und jede Erkenntnis innerhalb dieser Setzung zu bewerten. 16 Eine Ausstellung über bzw. eine Auseinandersetzung mit Scherers Werk kann diesen Bezugsrahmen nicht unerforscht lassen, ganz im Gegenteil, sie muss ihn adressieren und seine impliziten Wertungen kritisch untersuchen What we know about the relationship between the two men is mainly from Kirchner’s point of view, as he was in the habit of always reflecting carefully upon his own life and work, even inventing his own narrative, either posthu- mously through letters and diaries 9 or through his own texts of the time, such as the piece by Kirchner’s fictional French art-critic alter-ego, Louis de Marsalle published in Der Cicerone in 1925. This essay, which he had initially asked Will Grohmann to write but subsequently wrote himself under his pseudonym, would not only ensure he had the upper hand in relation to his sculptural work, but would cast him also as the kind of artist who communicates his ideas about sculpture to others and, in this sense, document his role as a teacher. 10 The fact that our knowledge of the two artists’ relationship draws mainly on details from Kirchner’s perspective is not only because he is the better known artist and his work was therefore more broadly received, but also because he strategically moulded his own reception during his lifetime and sought to influence it to a massive degree. He talked about his compatriots in letters, diary entries and his own texts, and was thus the first to posit and foster the image of a teacher/pupil relation- ship. 11 In his works, Kirchner also addresses the friendship between Scherer, Müller, Camenisch, and other fellow artists, and sometimes gives it a decisive stamp: " By painting Scherer as an admirer of his work, Kirchner unambiguously presents a teacher/pupil relationship.” 12 Scherer certainly thought less tactically about the reception of his work. 13 When Scherer died of sepsis as a result of an untreated streptococcal infection, he was tragically torn from his life with many years ahead of him. Owing to this unexpected and premature death, his oeuvre only comprises a few early works, and the extensive batch of works, which poured forth after meeting Kirchner, thus represents the culmination of his life’s work. We can only speculate as to how his work might have evolved. Kirchner, on the other hand, just thirteen years older than Scherer, was able to look back on an extensive oeuvre even before they met and achieved further stylistic develop- ments in the mid-1920s until his suicide in 1938. This starting position – the difference in age and experience, the extended working holidays together, Kirchner’s personal testimonials 14 and
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