Leseprobe
13 und hinterfragen, wenn man neu, anders und aus einer heutigen Per spektive auf das Schaffen Scherers blicken möchte. Doch wie kann man sich seinem Werk nähern, ohne die viel- fach übergestülpten kulturgeschichtlich konstruierten Schichten mit- zudenken? Wir wollen zunächst den Bezugsrahmen selbst in den Blick nehmen. Uns interessieren die Dynamiken, Ansprüche und Erwartun- gen, die im Zusammenhang mit einem Lehrer-Schüler-Verhältnis auf- treten. Welche Parameter gelten für solch ein Verhältnis? Wie sieht Kirchners Konzept für den Unterricht aus? Was sucht Scherer bei Kirch- ner? Was sucht umgekehrt Kirchner bei Scherer? Wie verhält es sich mit dem Austausch mit anderen und dem Bezug auf Vorbilder? Welche Rolle spielen das soziale und das geistige Umfeld, in dem sich die beiden Künstler begegnen? Was wissen wir über das gemeinsame Arbeiten? Welche künstlerischen Ideen und Ansprüche an die eigene Arbeit verbinden die Künstler? Was bedeutet es,wenn zwei Künstler an einemOrt zusammenarbeiten,die gleichen Motive und Modelle nutzen? Die Frage nach Formen der Zusammenarbeit bestimmt auch die Form dieses Essays, denn wir gehen den Text als gemeinsam schreibendes Autorinnenteam an. Betrachtet man die Rezeption dieses Verhältnisses von Kirch- ner und Scherer, muss man feststellen, dass gleich mehrere sich teil- weise sogar widersprechende Vorstellungen dieses Bild bis heute prägen. Einerseits wird Scherers künstlerisches Werk als bedeutender Beitrag zum Schweizer Expressionismus durchaus anerkannt und das Verhältnis zu Kirchner grundsätzlich sowohl im Sinne eines Gebenden als auch eines Nehmenden betrachtet, andererseits aber bleibt der Schüler-Stempel, den auch die anderen Künstler der Gruppe Rot-Blau tragen,hartnäckig haften.Dass sich ein solches Urteil überhaupt bilden konnte,dafür wird mitunter das eigene Agieren der Künstler der Gruppe Rot-Blau verantwortlich gemacht, in »ihre[r] Anhängerschaft und Ver- ehrung für den arrivierten Älteren« 17 . Da ihre Werke viele stilistische, motivische und technische Überschneidungen aufweisen, führt dies in der Rezeption zur lange verbreiteten Einschätzung, dass Scherers Werke ohne Kirchner nicht denkbar seien und Kirchners Werken glichen,dass also der Schüler den Lehrmeister kopiere und, vor allem auf die Malerei bezogen, wenig Eigenständiges hervorbringe. Diese generelle Einordnung erfährt im Laufe der Zeit, in der sowohl die Kirchner-Forschung über die Brücke-Zeit hinaus weiter betrieben wird als auch das Interesse an Scherers Werk wächst, Korrekturen und Differenzierungen. So wird beispiels- weise explizit zwischen dem »Maler Scherer« und dem »Bildhauer Scherer« ebenso wie zwischen dem »Maler Kirchner« und dem »Bild- hauer Kirchner« unterschieden. Wahlweise unterliegt der Schüler seinem Lehrer auf dem einen oder anderen Gebiet oder aber läuft ihm hier und dort, sei es in Direktheit, Expressivität oder technischer Ver- siertheit, den Rang ab. 18 Hinzu kommen die Interpretationen von Kirch- ner je nach Bedarf als entweder großzügigem, versiertem oder von Missgunst getriebenem, im Grunde ungeeignetem Lehrer. Gänzlich unabhängig von der einzelnen Wertung ist es wichtig festzuhalten,dass diese Zugänge allesamt vor der Folie des Lehrer-Schüler-Verhältnisses entstanden sind und dieses immer miterzählen. 19 the narrow frame of reference – has contributed to the fact that in art criticism as well as in art history, the relationship between the two artists is ossified in the mould of the teacher/pupil relationship. 15 To gain a firm grasp of Scherer’s works and examine his specific qualities, it is helpful to relate them to Kirchner’s works and analyse them in this context. However, doing so only within the frame of reference of the teacher/ pupil relationship means reducing the prematurely-deceased Scherer to the status of student dependent on Kirchner as teacher and to evaluate each insight within this context. 16 Any exhibition on Scherer and concomitant scrutiny of his work cannot leave this frame of reference unaddressed ; conversely, research has to be undertaken to critically examine and question its implicit premise in order to view Scherer’s work in a new, distinct, and more contemporary light. But how can one approach his work without taking in the often superimposed, cul- tural-historical layers? First of all, we should inspect the frame of reference itself. We are interested in the dynamics, demands and expec- tations associated with the teacher/pupil rela- tionship per se. Which parameters apply to such a relationship? What did Kirchner’s educational concept actually look like? What was Scherer looking for in Kirchner? What, by reciprocation, was Kirchner looking for in Scherer? To what extent was an exchange with others important, as well as reference to role models? What role did the social and spiritual milieu play, in which the two artists met? What do we know about how they worked together? Which of the artistic ideas and demands that each artist placed on his own work constituted common ground for the two men? What is the outcome when two artists work together in the same location, sharing motifs and models? The question of what form their sessions took as they worked together is both a seminal and resonant line of enquiry in this essay, not least because we have also approached the text as co-authors. When considering the reception of the bond between Kirchner and Scherer, it is neces- sary to realise that, even today, a number of – even at times – contradictory notions shape this relationship. On the one hand, as a significant contribution to Swiss Expressionism, Scherer’s art has been acknowledged and the relationship to Kirchner fundamentally viewed in the sense of a giver and a taker ; on the other, the wholesale labelling of Scherer with the status of pupil, as other Rot-Blau artists were labelled, has stubbornly stuck fast. The fact that such a verdict
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