Leseprobe

98 Künstler vom Atelier in die freie Natur führte, 261 ein weite- res hervorstechendes Merkmal des Sezessionismus. Die damit einhergehende Aufwertung der Landschaftsmalerei bedeutete zugleich jene Verschiebung in der Tektonik der Gattungshierarchie, die von der älteren Künstlergeneration abgelehnt wurde. In den großen deutschen Kunstzentren führte dieser Richtungsstreit zuerst in München zu einer Abspaltung von der Münchener Künstlergenossenschaft und ihren zuletzt künstlerisch wie ökonomisch unbefriedigenden Ausstellun- gen imGlaspalast: 1892 kam es zur Gründung eines Vereins bildender Künstler Münchens Secession e.V., 262 dem be- reits etablierte Künstler wie Fritz von Uhde, Franz von Stuck, Hans Thoma undWilhelm Trübner – die beiden letztgenann- ten traten im Übrigen auch mit Künstlersteinzeichnungen hervor – ebenso angehörten wie jüngere, vor allem in den Akademieklassen von Julius Diez und Paul Hoecker geschul- te ›Landschafter‹; Hoecker war einer der ersten Akademie- professoren gewesen, der mit seinen Schülern im Sommer zum Malen aufs Land zog. Auffallend ist in München auch die Beteiligung auswärtiger Künstler, die entweder als Se- zessionsmitglieder oder als Beteiligte an den frühen Sezes- sionsausstellungen dann ihrerseits an ihren eigentlichen Wirkungsstätten als Sezessionisten hervortraten: Gotthardt Kuehl und Max Liebermann waren Gründungsmitglieder der Münchener Secession und spielten dann in den 1893 und 1898 gegründeten Sezessionen in Dresden und Berlin eine führende Rolle. Leopold Graf von Kalckreuth, seit 1893 Mitglied der Münchener Secession, leitete nach 1895 die Naturklasse an der Weimarer Kunstschule und wurde an- schließend zu einer Zentralfigur des sezessionistischen Karlsruher Künstlerbundes. Adolf Hölzel war sowohl an der Gründung der Münchener als auch 1897 der Wiener Seces- sion beteiligt. Berliner Künstler wie Walter Leistikow oder der mit Künstlersteinzeichnungen bei R. Voigtländer vertre- tene Franz Skarbina stellten in der Münchener Sezession aus. Kurzum: Die Gegenbewegung zumoffiziellen Akademie­ betrieb war von einem regen wechselseitigen Austausch zwischen den Kunstzentren und der Bildung von personel- len Netzwerken geprägt. Sezessionen, Künstlerbünde und Künstlerkolonien Für die Entwicklung der künstlerischen Farblithografie um 1900 ist wiederholt auf die Rolle Karlsruhes als dem deut- schen »Vorort«  258 des farbigenSteindrucks hingewiesen wor- den. Entscheidende Faktoren für diese Führungsrolle waren die seinerzeit innovative Einrichtung einer lithografischen Klasse an der Kunstakademie sowie die Existenz einer leis- tungsfähigen Steindruckerei. Karlsruhe wurde auf dieseWei- se zum Anziehungspunkt für junge, experimentierfreudige Künstler, die die bislangmit der Trivialproduktion enggeführte und eher als unseriös geltende Farblithografie als Ausdrucks- mittel für künstlerisch anspruchsvolle Druckgrafikentdeckten. Wichtige Impulse waren dabei von der nahe Karlsruhe gele- genen Grötzinger Künstlerkolonie ausgegangen, einer volun- taristischen Künstlervereinigung, die von Anfang an in einer gewissen Distanz zur institutionalisierten künstlerischen Ausbildung stand und sich bald auch offiziell von dieser abspaltete; an der Karlsruher Akademie war das 1896 mit der Gründung des Künstlerbunds der Fall gewesen. Karlsruhe reihte sich damit in die Sezessionsbewe- gung der 1890er Jahre ein, für deren Entwicklung mehrere Faktoren ermittelt wurden. 259 An erster Stelle steht die Kritik an der in den Akademien vorzugsweise vermittelten histo- ristischen und als erstarrt empfundenen Malerei, mit der letztendlich die vormoderne Gattungshierarchie mit der Historienmalerei an der Spitze und der Landschafts- und Genremalerei als nachrangigen Gattungen fortgeschrieben wurde. Diese Hierarchisierung bildete sich nicht zuletzt auch sozialgeschichtlich bzw. standespolitisch ab in einem von autokratischen »Malerfürsten«  260 wie Franz von Len- bach in München oder Anton von Werner in Berlin be- herrschten Kunst- und Ausstellungsbetrieb, der jungen Ta- lenten zu wenig Präsentationsmöglichkeiten gab und sich zu wenig internationalen Strömungen öffnete. In dieser Hinsicht war die Hinwendung der jungen Generation zu ei- nem naturalistischen Malstil und die von der französischen Malerei inspirierte Begeisterung für die Freilichtmalerei, die den mit modernen Tubenfarben ausgerüsteten jungen Sozialformationen

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