Leseprobe
128 In den Sozialformationen, innerhalb derer die Künstler- steinzeichnungen entstanden, bildeten sich Einstellungen ab: der Protest gegen den in den Akademien vorwaltenden autoritären Führungsstil und die inhaltlichen Vorgaben der akademischen Malerei bei den Sezessionisten; die Bereit- schaft zu alternativen Lebensformen abseits der großstäd- tischen Kunstzentren in den Künstlerkolonien; der eman- zipatorische Anspruch bei den von der akademischen Aus- bildung bislang ausgeschlossenen »Malweibern«. Die So- zialformation war die Übersetzung dieser Einstellungen in die Lebenspraxis, die alte Konventionen ablehnte und künstlerische Innovationen suchte: bei der Farbgebung, was im Fall der Grafik den Bruch mit der schwarzweißen Griffel kunst bedeutete; bei der stark auf Landschaft und freie Natur fokussierten Motivwahl; mit dem Weg aus dem Ate- lier und der Hinwendung zum Pleinair; mit der Rezeption ausländischer Vorbilder wie dem französischen Impressio- nismus und dem Japonismus; mit der Neubewertung der Kunst des 19. Jahrhunderts, die in Abwendung vom akade- mischen Historismus nun erst eine breite Anerkennung der romantischen Landschaftsmalerei brachte. Dies waren die mehr oder weniger stark akzentuierten Hauptkomponenten des neuen Kunstwollens. Indem sich diese zu einem inter- nationalen Trend verdichteten, der das individuelle Streben nach künstlerischer Originalität überwölbte, wurden der Künstler und seine Sozialformation Teil einer Bewegung, ja einer Mode, die neue Konventionen und neue Etikettie- rungen produzierte: Jugendstil, Heimatkunst, Stilkunst um 1900, Kunstgewerbebewegung bzw. Arts and Crafts Move ment. Dieser Vorgang wiederum stand bald in einem kont- radiktorischen Verhältnis zur künstlerischen Individualität, und noch deutlich vor dem ErstenWeltkrieg kam es in Frank- reich zur fauvistischen Gegenbewegung und in Deutschland wurde durch die Künstlergemeinschaften Brücke und Blauer Reiter der Weg in Richtung Expressionismus und Abstraktion eingeschlagen. 334 Entscheidend beschleunigt wurde dieser Abschied von der »Welt von Gestern« 335 dann zweifelsohne durch die Kriegserfahrung. Die ästhetisierende Stilkunst um 1900 336 und der reformpädagogische Anspruch, durch die Erziehung zur Kunst zur Veredelung des Menschen bei- zutragen, wurden von der brutalen Realität der Material- schlachten und der Not der Zivilbevölkerung im ErstenWelt- krieg überholt. Diese mit den Mitteln eines zur Idylle ten- dierenden Heimatstils einzufangen und in Bilder zu über- setzen, erwies sich als unmöglich. Von der klassischen Mo- derne radikal überholt, gerieten damit auch viele Künstler und Bilder der Zeit um 1900 in Vergessenheit – um dann nach 1933 durch die Bildästhetik und die verlogene Agrar- romantik des Nationalsozialismus noch einmal aktualisiert zu werden. Damit waren sie nach 1945 endgültig und defini- tiv ideologisch kontaminiert und schieden für Jahrzehnte aus dem kunsthistorischen Rezeptionsprozess aus. Es bedarf mithin einer beträchtlichen hermeneutischen Anstrengung, um herauszuarbeiten, dass die Künstlersteinzeichnungen ursprünglich einmal Teil der Moderne um 1900 waren. Kunstgewerbe- und Kunst erziehungsbewegung Wenn es um diese verschütteten Anschlüsse der künst lerischen Farblithografie zu den Reformdiskursen und ästhe- tischen Debatten um 1900 geht, mit denen die »Kosten der Modernisierung« 337 abgefedert werden sollten, wurden als wichtige Stichworte bereits wiederholt Kunstgewerbe- und Kunsterziehungsbewegung genannt. Im Grunde verwiesen ja schon der Begriff der Künstlersteinzeichnung, der mit ihm verbundene Anspruch und die Herstellungstechnik auf die Kunstgewerbebewegung. Denn unter rein technischen und ökonomischen Gesichtspunkten war das zur Anwendung gelangende lithografische Druckverfahren durch den sich zeitgleich mit den Künstlersteinzeichnungen durchsetzen- den Offsetdruck keine Notwendigkeit. Doch das war nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr sollte ja ein mit der Aura der Originalgrafik und der Suggestion von aufwändiger Handwerklichkeit verbundener Kontrapunkt zur billig pro- duzierten Massenware der Bilderfabriken gesetzt werden. So gesehen ordnet sich die farbige Originallithografie in eine Erneuerungsbewegung ein, die als Arts and Crafts Movement 338 von England ausging und in Deutschland seit der Mitte der 1890er Jahre in eine breit aufgestellte Kunst- gewerbebewegung einmündete, die Zweckmäßigkeit der Form, materialgerechtes Design und handwerklich-gedie- gene Herstellung zu verbinden versuchte und letztendlich Diskurse, Motive und Stile
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1