Leseprobe

133 Diskurse, Motive und Stile  Landesverein Sächsischer Heimatschutz selbst verlege- risch aktiv wurde und einige Künstlersteinzeichnungen mit regionalem Bezug in Auftrag gab. 364 Die Heimatbewegung war ein zentrales Element der modernisierungskritischen Reformdiskussion um 1900, und sie war ein offenkundiger Reflex auf die durch die Indus- trialisierung ausgelösten Wandlungsprozesse wie die im 19. Jahrhundert zumMassenphänomen gewordene Arbeits- migration bzw. die Landflucht, die die demografische Kurve in den städtischen Zentren steil ansteigen ließ; so wuchs Dresden von knapp 62000 Einwohnern um 1800 auf etwa 517000 Einwohner im Jahre 1905. Dass die Geburts- und Herkunftsregion zumindest vorübergehend verlassen wer- den musste, wurde als Entfremdung von herkömmlichen sozialen Bindungen und als Entwurzelung aufgefasst, wäh- rend der Heimatbindung bzw. der Rückkehr in die Heimat eine naturwüchsige Emotionalität zugeschrieben wurde, auf deren Störung die Menschen mit Heimweh reagierten. Demnach waren es gerade die auf die notgedrungen »ver- lassenen Räume und sozialen Kontexte« gerichteten Hei- matgefühle in fremder Umgebungsgesellschaft,  365 die den Heimatdiskurs entstehen ließen und zur Konstruktion von Heimatbildern führten. Neben der »Entstehung des Heimatgedankens aus der Mobilität«  366 waren die Folgen der Industrialisierung für Natur und Umwelt ein zweiter wichtiger Impuls für die Hei- matbewegung.  367 Eingriffe in die Landschaft etwa durch den Eisenbahnbau – »die romantischen Felsen werden ge­ sprengt werden müssen, die grünen Ufer werden dem Auge durch hohe Dämme entzogen werden, die lieblichen Dörfer werden zum Theil rasiert werden«,  368 hielt Prinz Johann von Sachsen bereits 1846 fest – sind hier ebenso zu nennen wie frühe Klagen über Umweltverschmutzung durch Rauch­ emission. Dieser Weg »vom Biotop ins Technotop«  369 war einerseits ein urbanes Phänomen, das sich in Sachsen als einem der regionalen Schwerpunkte der Industrialisierung in Deutschland vor allem amStädtedreieck von »coketown« Chemnitz, »commercetown« Leipzig und »courttown« Dres- den festmachen lässt.  370 Das sächsische Beispiel zeigt aber auch, dass sich die Industrialisierung nicht nur in den Groß- und Mittelstädten, sondern auch im ländlichen Raum abspielte. Die Folge waren die sog. Industriedörfer wie bei- spielsweise das kleinbäuerliche Kriebstein im Zschopautal, wo sich die Papierfabriken Kübler & Niethammer mit dem seit 1877 hergestellten Rollendruckpapier für Zeitungen na- tional wie international als Branchenführer etablierten. 371 Dass sich im ländlichen Raum ein attraktiver Anlaufpunkt für Arbeitskräfte etablierte, dass die Fabriken die natürli- chen Ressourcen wie dieWasserkraft nutzten und umleiteten, zugleich durch Abwasser und Rauch die Umwelt belasteten, die Verbauung der Landschaft mit Fabriken, Schloten, neuen Transportwegen und -mitteln – dies alles führte zur Ver- schränkung von sozialen und Umweltkonflikten. Das war nun freilich die avantgardistische Speerspitze der Kunsterziehungsbewegung. Als Breitenbewegung war die- se eine eher rezeptiv ausgerichtete Schule des Sehens, die mit der Betrachtung und Interpretation von Bildern ästhe- tisches Empfinden und seelische Kräfte wecken und im weitesten Sinne die ›musische Bildung‹ fördern wollte. Denn, so formulierte es mit Konrad Lange einer der führen- den Vertreter der Kunsterziehungsbewegung, der ja auch Mitinitiator des Dresdner Kunsterziehungstags 1901 war, »Kunst ist die Quelle der edelsten Freuden, die man gerade heute, in der Zeit des überhandnehmenden Materialismus, keinem Menschen vorenthalten sollte.«  358 Zugleich hielt Lange am Primat eines realistisch-naturalistischen Darstel- lungsstils fest: »Alles übrige, Archaismus, Symbolismus, Primitivismus, Gedankenkunst und dekoratives Wesen« hielterfür»eitelSpielerei.«  359 DieKünstlersteinzeichnungen warenmit dieser Auffassung voll kompatibel, und deswegen waren sie 1901 auf demKunsterziehungstag ein prominentes Thema und gewannen die Aufmerksamkeit der führenden Kunst-, Schulbuch- und Lehrmittelverlage; namentlich die Geschäftsverbindung zwischen dem Karlsruher Künstler- bund und den Leipziger Verlagen R. Voigtländer und B. G. Teubner sei hier noch einmal hervorgehoben. In konzeptio- neller Erweiterung der Lernschule alten Stils und in Abgren- zung zur vordergründigen Didaxe der herkömmlichen Schul­ wandtafeln sollten die farbigen Originallithografien mit ihrer Gemütsbildung und Kunstsinn fördernden Stoffbe- handlung einen festen Platz in den Klassenzimmern finden. Wie sehr das der Fall war, lässt sich vielfach auf alten Klassen­ fotos erkennen: Bei genauer Betrachtung findet man im Bild- hintergrund häufig Künstlersteinzeichnungen in situ.  360 Heimatschutz und Heimatstil Zur zuletzt skizzierten kunsterzieherischen Zielsetzung der Künstlersteinzeichnungen gesellte sich ein weiterer, nicht minder wichtiger Anspruch. Als »stille Erzieher«  361 sollten sie zur Heimatliebe erziehen, sie wollten »Heimatkunst«  362 sein. Und indem sie bevorzugt deutsche Landschaften und Städte, deutsche Sagen und Märchen ins Bild setzten, wa- ren sie der visuelle Eckpfeiler der Heimatbewegung um 1900. In Entsprechung hierzu spielte der Heimatbegriff in der Titelgebung von Einzelblattdrucken, Mappenwerken oder Verlagsreihen eine wichtige Rolle; von den »Heimat- bildern deutscher Kunst« des Berliner Franz Schneider Ver- lags oder den »Heimatbildern für Schule und Haus« des Verlags A. Haase war bereits die Rede. 363 Für den engen Konnex von Heimat- und Naturschutzbewegung und dem Genre der Künstlersteinzeichnungen spricht beispielsweise auch, dass die von Karl Otto Matthaei 1907 publizierte Farblithografie »Blühende Heide« gemeinsam von R. Voigt- länder, Leipzig, und dem Niedersächsischen Verein für Volkstum verlegt wurde oder dass der 1908 gegründete

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