Leseprobe
14 »Die Lithographie, namentlich die farbige Lithographie, ist überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten aufgeblüht. In ihrer Verwendung für sehr große Wände ist sie erst seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts möglich gewor- den, wo die für den Druck nötigen Maschinen in Paris er- funden und konstruiert wurden, damals zum Zwecke der Herstellung großer Wandplakate, was dann zur Blüte der Plakatkunst in der Mitte der neunziger Jahre geführt hat. Jetzt stehen wir im Begriff, sie mehr und mehr, in Deutsch- land besonders energisch, für die Zwecke der Schule nutz- bar zu machen.« 1 Mit diesen wenigen Sätzen wurden knapp die zentralen Punkte angesprochen, um die es im Folgen- den geht: die Farblithografie und ihre drucktechnischen Voraussetzungen, ausländische Vorbilder und ihre Rezep- tion in Deutschland, ihre Nutzung als Wandschmuck in Schulen. Dieser Verwendungszweck ist zugleich die Erklä- rung für den Kontext der zitierten Aussage. Sie fiel auf dem Dresdner Kunsterziehungstag vom 28./29. September 1901, auf dem vor allem die »Frage der künstlerischen Er- ziehung der deutschen Jugend in Schule und Haus« 2 erör- tert wurde, der imSinne eines ganzheitlichen, nicht nur auf pragmatische Wissensvermittlung abhebenden Bildungs- verständnisses ein höherer Stellenwert eingeräumt werden sollte. 3 Adressaten der Vorträge und der begleitenden Aus- stellung waren deshalb besonders Vertreter der Schulver- waltungen und der Lehrervereine, aber auch Künstler und Museumsleiter. Zu der Tagung in Dresden, der zwei weitere Kunsterziehungstage 1903 in Weimar und 1905 in Hamburg folgen sollten, 4 hatte u. a. Alfred Lichtwark, 5 der Direktor der Kunsthalle Hamburg, eingeladen. Neben ihm zeichne- ten der Tübinger Kunsthistoriker und Gründer der Grafi- schen Sammlung des Kunsthistorischen Instituts Konrad Lange 6 und der Maler, Grafiker und Direktor der Stuttgarter Akademie der Künste Leopold Graf von Kalckreuth für die Tagung verantwortlich; 7 von Kalckreuth hatte im Übrigen 1895–99 in Karlsruhe als dem frühen Zentrum der künstle- rischen Farblithografie in Deutschland gewirkt. Als örtlicher Vertreter ist schließlich Woldemar von Seidlitz zu nennen, 8 der auch den Vortrag über Wandschmuck hielt, dem das einleitende Zitat entnommen ist. Dass sich von Seidlitz da- bei als Kenner der französischen Plakatkunst auswies und sich für einen zum Zeitpunkt seines Vortrags in Deutsch- land gerade hochaktuellen Trend – den Druck und die mög- lichst weite Verbreitung von Farblithografien – einsetzte, war durchaus bemerkenswert. Als vortragender Rat in der Generaldirektion der Königlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft in Dresden hatte er faktisch die Stellung eines Generaldirektors inne, demman ein eher elitäres, auf die alten Meister und Ölmalerei fokussiertes Kunstver- ständnis zu unterstellen geneigt ist. Freilich war gerade das Engagement für eine Popularisierung von Kunst und ästhe- tischer Bildung ein zentrales Anliegen aller in der Kunster- ziehungsbewegung aktiven Fachleute, und gerade deshalb galt der Grafik, der auf eine weitere Verbreitung und eine breite Käuferschicht angelegten vervielfältigenden Kunst, ihr besonderes Interesse. Das traf insbesondere auch auf von Seidlitz zu, der vor seiner Tätigkeit in Sachsen u. a. als Direktorialassistent im Berliner Kupferstichkabinett tätig gewesen war und der sich in Dresden um den Ausbau des Kupferstich-Kabinetts, dem er einige der heute begehrtes- ten Farblithografien von Henri de Toulouse-Lautrec schenk- te, besondere Verdienste erwarb. 9 Hervorhebung verdient nicht zuletzt sein Interesse für den japanischen Farbholz- schnitt, dessen klare Linien und auf Binnenzeichnung ver- zichtende Farbflächen die europäische Jugendstilgrafik im Allgemeinen, die lithografische Bewegung des ausgehen- den 19. Jahrhunderts im Speziellen nachhaltig beeinfluss- ten; mehr oder weniger deutliche Spuren des Japonismus lassen sich auch in den Künstlersteinzeichnungen finden. Damit ist der Begriff gefallen, der Untersuchungsge- genstand dieses Buches ist und unter dem die Künstler, Künstlerorganisationen und Verlage die Farblithografien offerierten und vermarkteten. Die Künstlersteinzeichnun- gen erschienen dabei vor allem als Einzelblattdrucke, aber auch in Mappenwerken, daneben wurde die farblithografi- sche Drucktechnik aber auch für Künstlerpostkarten und für die Ausstattung hochwertiger Künstlerbilderbücher einge- setzt. Nicht zuletzt wurde das weite Feld der sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etablierenden künst- lerisch gestalteten Werbegrafik bestellt, indem ›Künstler- steinzeichner‹ ihre pekuniären Interessen mit dem ästheti- schen Anspruch einer Veredelung des Massengeschmacks harmonisierten und Reklamemarken, Kaufmannsbilder, Werbepostkarten oder Plakate gestalteten. Darauf wird in Die Deutsche Künstlersteinzeichnung Eine Annäherung
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