Leseprobe

33 Der aus Siebenbürgen stammende Fotograf Brassaï, der im Dezember 1932 mit der Veröffentlichung seiner Pariser Nachtfotografien unter dem Titel Paris de Nuit für Begeisterung sorgte, erhielt zur gleichen Zeit einen außergewöhnlichen Auftrag, der ihn mitten in das Herz der Pariser Kunstwelt beförderte. Für die erste Ausgabe der neu gegründeten Kunstzeitschrift Minotaure im Juni 1933 wurde er von den Heraus­ gebern Albert Skira und Tériade (eigtl. Stratis Eleftheriadis) damit betraut, die neuesten, seinerzeit noch unbekannten plastischen Arbeiten von Pablo Picasso zu fotografieren. Picasso, der wenige Monate zuvor seine erste Retrospektive in der Galerie Georges Petit ausgerichtet hatte, wurde in diesem Heft ein prominenter Platz zugewiesen. Er gestaltete das Titelbild, außerdem wurden Grafiken aus der Suite Vollard und zwei Serien von Zeichnungen reproduziert. Den Mittelpunkt bilden jedoch Brassaïs 41 Auf- nahmen aus dem Atelier des Künstlers in der Rue la Boétie und der Bildhauerwerkstatt in Boisgeloup.1 Sie werden begleitet von einem Text von André Breton und sind in unterschiedlichen Größen und Anordnungen auf elf Doppelseiten arrangiert.2 Die Foto- grafien binden das Atelier nicht nur maßgeblich an Picassos Werk, jenes ist von da an auch unwiderruflich mit der Person des Künstlers verknüpft. Die künstlerische Bild­ sprache der Aufnahmen, die gestaltend über das Abbildhafte hinausgeht, und ihre neuartige Präsentation kennzeichnen die Ausdrucksformen, medialen Wechselbezie- hungen und Wirkungsfelder des Neuen Sehens in Frankreich und sind das Ergebnis einer spezifischen Konstellation an Akteurinnen und Akteuren in Paris um 1930. Sie markieren in der Geschichte fotografischer Atelierrepräsentationen einen entschei­ denden Moment, der aus den soziokulturellen, politischen, ästhetischen und medien- technischen Bedingungen der Zwischenkriegszeit resultiert und untrennbar mit der französischen Hauptstadt und ihrem künstlerischen Milieu verbunden ist.3 Une revue constamment actuelle Die Gründung des Minotaure stellte für seine beiden Editoren eine besondere Gele­ genheit dar. Der Schweizer Albert Skira hatte bereits zwei aufwendig gestaltete und hochwertig gedruckte Künstlerbücher herausgegeben und wagte sich nun an eine periodisch erscheinende Publikation heran, für die er sogar einen eigenen Verlag gründete und mit der er sich dauerhaft als Verleger etablieren wollte.4 Dabei setzte Minotaure ähnlich wie die von 1929 bis 1931 erschienene Zeitschrift Documents auf eine breite Themen- und Autorenwahl und kombinierte »Bildende Kunst, Poesie, Musik, Architektur, Ethnografie und Mythologie, Schauspiel, psychoanalytische Studien und Beobachtungen«.5 Sie gab außerdem den Surrealisten um André Breton eine neue Plattform, nachdem im Mai 1933 die letzte Nummer von Le Surréalisme au service de Ulrike Blumenthal Neues Sehen im Atelier Brassaïs Fotografien von Picassos Schaffensort in der Zeitschrift Minotaure Abb.1 Minotaure ,Heft 1 (Juni 1933), S.8 (Fotografie: Brassaï)

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