Leseprobe

35 ein Gespür für das Ungewöhnliche und einen scharfen Sinn für Details aus und verspra- chen deshalb auch eine originelle und neuartige Präsentation von Picassos Ateliers. Damit konnten Skira und Tériade eine Form des Atelierbesuchs erproben, die den ästhe- tischen und publizistischen Zielen der neuen Zeitschrift entsprach: »Minotaure veut être une revue constamment actuelle« heißt es in einer editorischen Notiz in der ersten Nummer.12 Brassaïs Aufnahmen waren also ein idealer Aufmacher für die erste Ausgabe, präsentieren sie doch auf einen Schlag die aktuellsten künstlerischen Entwicklungen im Werk Picassos und faszinieren zugleich mit einem exklusiven Einblick in das Atelier des Künstlers. Als jemand, der den bildenden Künsten nahestand, aber mit einer Tech- nik arbeitete, die Picasso selbst fremd war, vermochte sich Brassaï gleichermaßen in das Werk des Künstlers einzufühlen wie sich davon abzugrenzen. Ateliereinblicke Mittels Nahaufnahmen, Ausschnittwahl und einer originären Lichtgestaltung überführte Brassaï die weitläufigen Atelierräume in der Rue la Boétie in intime und privat anmu- tende Winkel. Geprägt von tonaler Klarheit und Präzision in der Wiedergabe, rufen die Fotografien eine dokumentarische Bildsprache auf, wie sie zu dieser Zeit in Abgren- zung zum Piktorialismus gefordert wurde.13 Allerdings griff Brassaï entschieden in den fotografischen Prozess ein. Seine Aufnahmen sind keine spontanen Schnappschüsse, sondern das Ergebnis wohlüberlegter Kompositionen und Bildausschnitte, die das Atelier nicht allein dokumentieren. Sie führen vielmehr eine spezifische Sicht vor, die Picassos Selbstverständnis ebenso entspricht, wie sie auf die zeitgenössische Rezep- tion des Künstlers reagiert. Die Präsentation der Fotografien im Heft spitzt Brassaïs Bildsprache durch eine gezielte Auswahl der Motive und geänderte Ausschnitte noch zu.14 Während die Kontaktabzüge auch ein Ganzfigurporträt von Picasso und Aufnahmen aus dem Wohnbereich aufwei- sen, konzentrieren sich die Reproduktionen im Minotaure auf einzelne Bereiche und Ecken im Atelier und zeigen den Künstler selbst nicht.15 Stattdessen eröffnet eine ganz- seitig wiedergegebene Darstellung von auf dem Boden wild durcheinander liegenden Abb.3 Minotaure, Heft 1 (Juni 1933), S.12/13 (Fotografien: Brassaï)

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