Leseprobe
Die Protagonistinnen und Protagonisten der sozialdokumentarischen Fotografie der 1930er Jahre in Paris waren zumeist Immigranten aus Ostmitteleuropa und Deutsch- land. Sie fanden Zuflucht in avantgardistischen Milieus und kommunistischen Kreisen, und wenn sie Glück hatten, arbeiteten sie für linke Zeitungen und Zeitschriften wie Vu oder Regards .1 So wandten sie sich der Straße zu, um die Armut zu dokumentieren und die soziale Ungerechtigkeit anzuprangern, insbesondere die Arbeitslosigkeit und die schlechten Wohnbedingungen der classes populaires, also des »einfachen Volkes« beziehungsweise der sozialen Unterschicht. Germaine Krull, Eli Lotar, Brassaï, Robert Capa, Gerda Taro, Fred Stein, Alfred Eisenstaedt, Chim: Diese Namen verraten, wie kosmopolitisch das Milieu der Fotografen war, die der revolutionären Linken jener Zeit nahestanden.2 Und sie erinnern an die in ganz Europa verbreitete Solidarität mit dem Kampf gegen die Konzentration des Kapitals und gegen die schlechten Arbeitsbedin- gungen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Das erklärt auch die Empfänglichkeit dieses Milieus für ästhetische Neuerungen, die aus Deutschland, der Tschechoslowakei, den Niederlanden und Russland kamen: das Neue Sehen, die deutsche Schule der Foto reportage und zuweilen auch die sowjetische Fotografie. Gleichzeitig wurde das dokumentarische Schaffen im Paris der dreißiger Jahre von der Erinnerung an die petits métiers , die Literatur des Realismus und die pittoresken Dar- stellungen des »einfachen Volkes« eingeholt, während die formalen Erkundungen der Avantgarden erlahmten. Wann immer sich diese Reporter dem Volk zuwandten, fanden sie eben jene Sujets wieder, die im 19.Jahrhundert verbreitet waren, ganz so, als sei das Pariser Volk schon immer mit jenen Darstellungen identisch, die sich nun als Relikte einer romantisch-realistischen Vergangenheit dem Dokumentarismus der Moderne aufdrängten. Die Sozialfotografie jener Jahre war also eine Mischung aus Moderne und Pittoreskem: einer modernen Technik – die Kleinbildkamera und die Mobilität des Blicks – und einer pittoresken Bildsprache, die sich unwiderruflich in eine literarische Tradition stellte. Das pittoreske Paris Bevor sie zur Sozialfotografie wurde, machte sich die Fotografie im 19.Jahrhundert den folkloristischen Geschmack und die Menschentypen zu eigen, die in der Literatur und den volkstümlichen Bilderbogen kursierten. In dieser Hinsicht reihte sie sich in die lange Tradition der »Rufe von Paris« ein, die auf Louis-Sébastien Mercier und, mehr noch, auf die Kupferstecher der Rue Saint Honoré im 17.Jahrhundert zurückreichte: eine Mischung aus Neugierde und Abscheu gegenüber dem lärmenden Pariser Volk.3 Christian Joschke Sozialfotografie und dieTradition des Realismus im Paris der 1930er Jahre 67 Abb.1 René-Jacques, Eingeschlafener Clochard (Detail),um 1935
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