Leseprobe

68 Genau genommen gab es ab dem frühen 18.Jahrhundert zwei unterschiedliche Genres: die volkstümlichen Drucke und die edlen Drucke mit Pariser Menschentypen. Die einen wurden für ein paar Sous auf der Straße an Neugierige verkauft, die anderen richteten sich an Amateure – und waren im Übrigen selbst von Amateuren gemacht. Graf Caylus, ein berühmter Antiquar, Sammler und Kunstliebhaber und ein Zeitgenosse Winckel- manns, stach selbst einige Typen aus dem Volk nach Vorlagen von Edme Bouchardon (Abb.2): Le Proven ça l – Le vielleux – L’écureuse . Die Form, in der diese Pariser Typen betitelt wurden – alles Substantivierungen –, sagt viel über den Blick aus, mit dem man das Volk betrachtete. Die écureuses waren Frauen, die Kessel reinigten, die vielleux Männer, die Radleier spielten. Diese Gleichsetzung von Beschäftigung und Typus bestand, allen Veränderungen des Diskurses zum Trotz, durch die Jahrhunderte fort. Man bezeichnete eine Frau oder einen Mann mit ihrem beziehungsweise seinem Beruf, nicht nach der Herkunft oder der regionalen Eigenart. Le Proven ç al war übrigens eben- falls ein Pariser Typus, benannt nach seinen Instrumenten, der Trommel und der Hirten- flöte, dessen Beruf es war, Provençal-Musik vor Straßenpublikum zu spielen. Die Pariser Folklore war und blieb eine pittoreske Folklore der »kleinen Berufe«. Die Maler waren von diesen Typen fasziniert. Edouard Manet malte mit Vorliebe Posen vom Typ Espagnol mit kontrastierenden Farben vor schwarzem Hintergrund. Sein Entree auf dem Pariser Salon gab er 1861 mit einem spanischen Gitarristen (heute »Spanischer Sänger« genannt), während genau zur selben Zeit der Fotograf Alphonse Delaunay, der zum Pariser Kalotypisten-Kreis zählte, seine Spanier-Serie aufnahm (Abb.3).4 Das hiesige Folklore-Motiv waren die Pariser Straßenverkäufer, die allerdings eher das Bild vom Gauner bedienten. Die Vorliebe für Pariser Typen findet sich im 19.Jahrhundert in Stichen von Carle Vernet wieder (Abb.4), der seinen Sammelband dazu Les cris de Paris betitelte: Die Rufe von Paris.5 Wie Mercier wies auch Vernet jedem Beruf einen eigenen Klang, einen Ausruf zu. Der Korbwarenhändler schrie »Körbe, Körbe, Korbhänd- ler«. In Vernets Sammelband finden sich die fliegenden Straßenhändler, die wegen der hohen Ladenmieten eine Art Parallelmarkt zum etablierten Handel bildeten, als ein Menschenschlag wieder, der die Straßen in einen flüchtigen Basar zu verwandeln scheint. Auch die Bildervorführer und die Murmeltierdompteure, die Regenschirm- und die Tragsesselverleiher sind hier zu finden. Kurze Zeit nach Carle Vernet veröffentlichte Abb.2 Anne Claude Philippe de Caylus, Der Radleierspieler nach Edme Bouchardon, undatiert,Kupferstich Abb.3 Alphonse Delaunay, Spanische Typen ,um 1854, Salzpapierabzug

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