Leseprobe
5 Wohl keine Stadt in Europa hat im 19. und frühen 20.Jahrhundert eine größere Anzie- hungskraft auf Künstler und Intellektuelle ausgeübt als Paris. So sprach Walter Benjamin im ersten Teil seines unvollendet gebliebenen Passagen-Werks von Paris als der »Hauptstadt des 19.Jahrhunderts«.1 Nach ersten längeren Aufenthalten in den Jahren 1926 und 1927 bot ihm die Stadt ab 1933 bis zu seinem Freitod 1940 in Portbou Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. 1935 verfasste Benjamin in Paris seine vielleicht populärste Schrift über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro duzierbarkeit . In diesem Essay untersuchte er das Verhältnis eines Kunstwerks zu fotografischen Abbildern, die seit der Entwicklung der Fotografie in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Frankreich den bis dahin bildgebenden Medien den Rang ab gelaufen hatten. Den allgemeinen Widerstreit von Aura und Original mit reproduktiven Techniken in der Kunst thematisierte er bereits 1931 in seiner Kleinen Geschichte der Fotografie – hier allerdings ganz konkret bezogen auf Eugène Atget, den Pariser Foto- grafen der Jahrhundertwende schlechthin, der von Man Ray und anderen als Ahnherr ihrer künstlerischen Fotografie auserkoren wurde, und seine vermeintlichen Nach folger: »Er leitet die Befreiung des Objekts von der Aura ein, die das unbezweifelbarste Verdienst der jüngsten Photographenschule ist« – eine »Photographenschule«, der Benjamin neben August Sander und Karl Blossfeldt unter anderem auch Germaine Krull, eine der Protagonistinnen unserer Ausstellung, zurechnet.2 Viele der Fotografinnen und Fotografen in Paris um 1930 teilten mit Walter Benjamin das Schicksal des Exils. Unter diesen Exilanten, aber auch unter den freiwilligen Migranten finden wir viele der bekanntesten Namen der Zeit wie Brassaï, André Kertész, Florence Henri, Germaine Krull oder auch Man Ray. Fotografie war eine junge, wenig akademische und damit auch weniger vorbelastete Kunstform, die für Frauen zugänglicher war als etwa die Malerei, und in der sich viele von ihnen gegenüber den Männern behaupten konnten. Die Stadt Paris, die zusammen mit London bis zum Zweiten Weltkrieg als Inbegriff des kosmopolitischen, freizügigen Lebens und als kulturelles Zentrum der westlichen Welt galt, zog Künstler und Fotografen an, die oft den künstlerischen Avantgarden der Zeit nahestanden. Wie Philipp Freytag in seinem Aufsatz ausführt, bewegten sich einige von ihnen im Umkreis der Surrealisten. Andere wirkten an einer Revolutionierung des fotografischen Blicks mit, die unter dem Begriff des Neuen Sehens in die Kunstge- schichte eingegangen ist. Wieder andere fühlten sich der Fotografie der Neuen Sach- lichkeit verpflichtet, die zeitgleich mit Entwicklungen in der Malerei oder dem Neuen Bauen in der Architektur auch im Bereich der Fotografie durch eine ausgeprägte Nüch- ternheit und Klarheit gekennzeichnet war – in Abwendung etwa zur piktorialistischen Vorwort 1 Benjamin 1991,S.45 2 Benjamin 1994,S.57
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