Leseprobe

Fotografien wie Germaine Krulls Fragmente des Eiffelturms (Kat.49) oder ihre zahllosen Schnappschüsse aus den Straßen der Stadt (Kat.47), Brassaïs Ansichten des nächt­ lichen Paris (Kat.38, 39), seine Images primitives (Kat.44, 45) oder auch Alfred Eisen­ staedts Serie über die sogenannten Apachen von Les Halles (Kat.28–30) zeigen ein anderes, wenn man so will, ein modernes Paris abseits der bekannten, geradezu emblematischen Orte wie Montmartre, den Gärten und den großen Boulevards. Über Veröffentlichungen in Illustrierten, Fotobüchern und Ausstellungskatalogen haben sie unser Bild vom Paris der Zwischenkriegszeit entscheidend geprägt, sind gleichsam zu historischen Dokumenten geworden. Mindestens ebenso sehr, wie sie das Bild dieses Ortes zu jener Zeit bezeugen, repräsentieren sie aber auch bestimmte wegwei- sende Kapitel der Fotogeschichte: das Neue Sehen (Krull), den Surrealismus (Brassaï) und die sozialdokumentarische Reportagefotografie (Eisenstaedt). In der Ausstellung Paris 1930. Fotografie der Avantgarde geht es, wie auch im vorliegenden Essay, nicht in erster Linie um das fotografische Bild der französischen Hauptstadt in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen. Der Fokus liegt vielmehr auf Paris als exemplari- schem Ort der Fotografie dieser Jahre, an dem sich die Entwicklung des Mediums am Schnittpunkt zwischen angewandten und künstlerischen Gebrauchsweisen beispiel- haft nachvollziehen lässt. So gilt es, die unterschiedlichen visuellen Kulturen der 1920er und 1930er Jahre in ihrer Koexistenz und wechselseitigen Beeinflussung zu zeigen. Die Situation in Paris um 1930 ist in vielerlei Hinsicht mit der in anderen europäischen und nordamerikanischen Großstädten vergleichbar. Schließlich sind Fotografien bereits seit dem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts industriell gefertigte, global vertriebene Waren. Das betrifft die Technik, die wechselnde Konjunktur bestimmter Sujets und Bildsprachen sowie den Vertrieb der Bilder, sei es über fotografische Fachzeitschriften, Industriemessen wie die regelmäßigen Weltausstellungen, fotografische Salons oder auch zunehmend Tageszeitungen und Illustrierte. Ob Paris, Berlin, Budapest oder New York: Überall werden die gleichen Bildaufgaben mit der gleichen Technik in der glei- chen Bildsprache fotografiert und den Betrachtern über die gleichen Kanäle vermittelt.1 Die bestimmenden Faktoren der Fotografie der Zwischenkriegszeit sind hinlänglich bekannt: Auf fototechnischer Seite sind dies etwa die Entwicklung der Kleinbildkamera und lichtstärkerer Objektive. Hinzu kommen Fortschritte auf den Gebieten der Atelier- ausstattung, insbesondere der Lichttechnik, und der Vervielfältigung fotografischer Bilder in Zeitschriften und Büchern. Zeitgleich entstehen neue Gebrauchsweisen des Mediums wie die Reklame- und die Modefotografie sowie das weite Feld der Presse­ fotografie und der Fotoreportage. Die technischen Innovationen begünstigen das Aufkommen neuer Sujets und Bildsprachen wie der um 1930 allgegenwärtigen Nacht­ fotografie. Gleiches gilt für das Ausdrucksmittel des Bildessays, in dem die Fotografie Philipp Freytag Paris 1930 Fotografie und Avantgarde Abb.1 Eugène Atget, Geschäft für Herren­ bekleidung,Avenue des Gobelins, 1925 9

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