Leseprobe

10 seriell gedacht und mit dem geschriebenen Wort kombiniert wird. Vor allem aber ermöglicht die Kleinbildkamera ein sehr viel mobileres und spontaneres Fotografieren, das – auch unter dem Einfluss des jungen Mediums Film – in den kühnen, häufig wechselnden Perspektiven und teils extremen Nahaufnahmen und Anschnitten des Neuen Sehens mündet. Ein weiteres Charakteristikum dieser Jahre ist die zunehmende Professionalisierung und Normierung der Fotografie. Die Gründung zusehends spezialisierter Ausbildungs- stätten wie Gertrude Fehrs privater Fotoschule Publiphot (1934–1939) sowie von Pressebild- und Werbeagenturen und die Einrichtung von Bildredaktionen führen zu einem immer reflektierteren Umgang mit der Fotografie, ihren bildnerischen Ausdrucks- möglichkeiten und den Mitteln der Präsentation und Distribution. In dieser Hinsicht wirkt außerdem die aufkommende Beschäftigung mit der Geschichte der Fotografie, und zwar sowohl in der einsetzenden Fotogeschichtsschreibung als auch in der angewandten Kanonbildung durch den Aufbau privater und institutioneller Samm­ lungen. Kurzum: Die Ubiquität des Mediums im Alltagsleben der Menschen und seine vielfältigen Erscheinungsformen, sei es in der Reklame, den Illustrierten oder in der professionellen Porträt- und der privaten Knipserfotografie, sind bezeichnend für diese Jahre und bedingen nicht zuletzt auch eine zunehmende Professionalisierung seitens der Rezipienten. Nicht weniger prägend ist die zuvor ungekannte Einbindung des Mediums in die bildende Kunst, insbesondere in die Praktiken der Avantgarden: sei es als Mittel zur Dokumentation performativer Ausdrucksformen, von Objekten oder Ausstellungen, sei es als Rohstoff für Collagen oder als zunehmend eigenständige Gattung. Entsprechend hoch ist der Anteil an bildenden Künstlern, insbesondere Malern, die sich in diesen Jahren oft nur vorübergehend der Fotografie bedienten, darunter Florence Henri, Raoul Ubac, Michel Seuphor und letztlich auch Man Ray. Quentin Bajac fasste die Entwicklungen dieser Jahre in der Formulierung zusammen, die Fotografie habe seinerzeit erstmals ihr vollständiges künstlerisches Potenzial entdeckt.2 Er paraphrasiert damit einen geradezu topischen Gedanken der Zeit, wie er sich beispielhaft in Waldemar Georges (eigtl. Jerzy Waldemar Jarociński) Diktum vom Beginn eines fotografischen Bewusstseins (»l’avènement de la conscience photo­ graphique«) ausdrückt.3 Das betrifft die Vielfalt ihrer Anwendungen, deren Profes­ sionalisierung, aber eben auch ihren Einsatz als Ausdrucksmittel der bildenden Kunst, verbunden mit einer Diversifizierung der Bildsprachen.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1