Leseprobe

Paris 1930 Das fotografische Feld in Paris um 1930 unterscheidet sich wie erwähnt nicht grund- sätzlich von dem anderer europäischer und nordamerikanischer Metropolen, jedoch durchaus in bedeutsamen Nuancen. Insofern gilt es zu klären, worin die Unterschiede liegen und inwiefern man von einem Genius loci et temporis sprechen kann. Besonders prägend war jedenfalls der Einfluss der Avantgarden, vor allem des Surrealismus und seiner Zeitschriften, die einen engen Austausch zwischen Fotografen und bildenden Künstlern ermöglichten. Hinzu kamen die großen Illustrierten wie Vu , L’Art vivant oder  Jazz mit ihren Herausgebern Lucien Vogel, Florent Fels und Carlo Rim und den Publizisten Pierre MacOrlan oder dem bereits angesprochenen Waldemar George. Parallel wurden erste Fotoagenturen gegründet. 1928 fand im Treppenhaus der Comé- die des Champs-Elysées der sogenannte Salon de l’escalier (eigentlich Premier Salon indépendant de la photographie ) statt, organisiert von Lucien Vogel (dem Herausgeber von Vu ), Florent Fels (Chefredakteur von L’Art vivant ), Georges Charensol (Kunstkritiker von L’Art vivant ) sowie René Clair und Jean Prévost. Gezeigt wurden neben historischen Fotografien von Nadar und Eugène Atget überwiegend zeitgenössische Arbeiten von Berenice Abbott, André Kertész, Madame d’Ora, George Hoyningen-Huene, Germaine Krull-Ivens, Man Ray, Paul Outerbridge und Laure Albin-Guillot. Wie etwa in Berlin ist die Fotografie der 1920er und 1930er Jahre auch in Paris vom Wirken zahlreicher Frauen geprägt, allen voran Fotografinnen wie Germaine Krull, Florence Henri und Berenice Abbott, aber ebenso Gertrude Fehr, die 1934 in der franzö- sischen Hauptstadt ihre Fotoschule Publiphot gründete (und bis zu ihrer Emigration in die Schweiz 1939 leitete), an der unter anderem Johanna Auscher studierte. Gleiches gilt für Marie Eisner, 1934 neben Pierre Boucher und René Zuber Mitbegründerin der Agentur Alliance Photo (sowie später von Magnum ) und Gisèle Freund als einer der ersten Fotohistorikerinnen. Bereits die wenigen hier angedeuteten Lebensläufe lassen es erkennen: Die Geschichte der französischen Fotografie zwischen den Kriegen wäre ohne den Einfluss ausländischer Fotografinnen und Fotografen, vornehmlich aus Mittel- und Osteuropa und den USA, eine andere gewesen. Schon vor 1933 war Paris aufgrund der relativ stabilen wirtschaftlichen Verhältnisse und eines liberalen kulturellen Klimas das Ziel vieler Emigrantinnen und Emigranten, vor allem aus Ungarn.4 Menschen wie Man Ray, Germaine Krull, André Kertész oder Brassaï brachten, abgesehen von ihrer persönlichen Kreativität und Schaffenskraft, die sich in bemerkenswerten Werken niedergeschlagen hat, auch bestimmte Traditionen und Innovationen aus ihren Heimat- ländern mit. Man denke nur an die Entwicklungen im Bereich des Fotojournalismus in 11

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